Leitlinie unter der Lupe

Die Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ hat in vielerlei Hinsicht Neuland betreten, sei es methodisch, sei es inhaltlich.

Schon die Konsultationsfassung löste, je nach Interessenlage der Kritiker, teils gegenläufige Reaktionen aus. Einige Einwände führten zu Anpassungen, ohne die Gesamtlinie zu verlassen, was im Leitlinienreport nachlesbar ist. Nachdem wir bereits in der vorherigen ZIMS-Ausgabe auf die methodischen Besonderheiten der neuen MS-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica- Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ eingegangen sind, widmen wir uns diesmal den, aus Sicht der Patient*innen, wichtigsten Neuerungen der am 10.05.2021 veröffentlichten finalen Fassung.[1]B. Hemmer et al.: „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2021“, in: Deutsche Gesellschaft … Weiterlesen Dazu wollen wir uns die einzelnen Kapitel nun nacheinander etwas genauer anschauen:

Als Adressaten der Leitlinie werden erstmals auch die Betroffenen selbst genannt, und unter „Ziele der Leitlinie“ findet sich ein Bekenntnis zu den medizinethischen Prinzipien „Respekt vor der Autonomie der Patienten“ und „Nicht-Schaden“. Unter „Was ist neu?“ findet man die „wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick“. Hier wird schnell klar, dass die neue Leitlinie zwar grundsätzlich einen immuntherapeutischen Schwerpunkt setzt, jedoch auch die Negativseiten der Immuntherapien in die Therapieempfehlungen einbezieht und als Konsequenz ein an die Krankheitsschwere angepasstes und mit Patient*innen abgestimmtes therapeutisches Vorgehen befürwortet. Geradezu als Paradigmenwechsel kann man es ansehen, dass ein abwartendes Vorgehen ohne Immuntherapie nach Erstdiagnose ebenfalls als leitliniengerecht gilt, wenn man von einem milden Verlauf ausgehen kann (Empfehlung A16), genau wie ein Absetzen der Immuntherapie, wenn man unter Substanzen der Wirksamkeitskategorie 1 mindestens fünf Jahre lang einen stabilen Verlauf hatte (Empfehlung A60). Zuvor musste man das als Betroffene*r meist gegen ärztlichen Widerstand und zu Lasten des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses durchsetzen.

Kapitel A: Schubtherapie

Hier bleibt es dabei, dass zu einem Schub immer auch eine neurologische Symptomatik gehören muss. Neu aufgetretene MRT-Herde ohne begleitende klinische Symptome sind kein Schub und nicht zu behandeln. Grundsätzlich soll die Indikation zur Schubtherapie von der Schwere der Symptomatik abhängig gemacht werden, weswegen bei leichten Schubsymptomen nicht notwendigerweise behandelt werden muss. Eine Dosierung von 500–1000 mg Methylprednisolon täglich über 3–5 Tage wird als Standard angesehen. Verträgt man Kortison schlecht, kann man also darauf verweisen, dass auch eine geringere Dosierung von z.B. 500 mg über drei Tage leitliniengerecht wäre. Generell geht der Schubtherapieabschnitt ausführlich auf die wissenschaftlichen Hintergründe und die Nebenwirkungsproblematik der Schubtherapie ein. Die orale Durchführung der Kortisontherapie wird der Anwendung als Infusion gleichgesetzt. Die Auswahl zwischen oral oder intravenös hängt dabei von den individuellen Gegebenheiten ab, wozu auch die persönlichen Vorlieben bzw. Lebensumstände von Patient*innen zählen. Die Möglichkeit der Plasmapherese bzw. Immunadsorption wird ausführlich besprochen und es werden Empfehlungen für die Rangfolge der verschiedenen Optionen gegeben.

Kapitel A: Immuntherapie, Behandlungsschema und Therapieentscheidungen

Dieses Kapitel beginnt mit der Betrachtung „Allgemeine Überlegungen zur Immuntherapie“, die die wissenschaftliche Aussagekraft der verfügbaren Studien zu den Immuntherapien der MS kritisch beleuchtet. Hier ist insbesondere die Relativierung des „Hochaktiv“-Begriffes im blau unterlegten Textkasten „Das Dilemma der unzureichenden Definitionen der entzündlichen Aktivität“ auf Seite 34 lesenswert. Leider konnte in der Leitlinie nämlich keine Übereinkunft für eine allgemeingültige Definition von Hochaktivität erzielt werden, weil dafür die Daten fehlen. Anschließend geht es mit insgesamt 52 Einzelempfehlungen ins Detail, die anstelle des wenig differenzierten früheren Stufenschemas zur Immuntherapie für zahlreiche klinisch relevante Situationen konkrete Handlungsempfehlungen geben. Die Empfehlung A14 formuliert, dass die primären Ziele der Immuntherapie „die Verhinderung bzw. Reduktion von klinischer Krankheitsaktivität (Schübe und Krankheitsprogression) und der Erhalt der Lebensqualität“ sein sollen, erlaubt aber als weiteres Ziel auch die Verminderung der in der MRT messbaren Krankheitsaktivität, und schließt mit dem Anspruch, dass realistische Therapieziele vor Therapiebeginn zwischen Ärzt*innen und Patient*innen vereinbart werden sollen. Es kommt also laut Leitlinie darauf an, dass die Betroffenen ihre eigene Präferenz von Anfang an in die Behandlungsentscheidungen einbringen, und es wäre nicht leitliniengerecht, ihnen ein Therapieziel einfach vorzugeben. 

Innerhalb der neurologischen Fachwelt wird eine andere Neuerung heiß diskutiert. Statt der bisherigen Unterteilung der Immuntherapeutika in zwei Gruppen, eine für den milden oder moderaten Verlauf, eine für den (hoch-)aktiven Verlauf, werden jetzt drei Gruppen gebildet. Die Einteilung richtet sich nach der relativen Wirksamkeit in Bezug auf die Reduktion von Schubaktivität, und nicht in Bezug auf die Verminderung der Behinderungsprogression. Dieses Kriterium wurde gewählt, weil lediglich für diesen Bezugswert vergleichbare Daten für alle Immuntherapien aus den Zulassungsstudien vorliegen, und auch das nur über die Zeitdauer von zwei bis drei Studienjahren. Die Kategorisierung ist als pragmatisch anzusehen, und beruht nicht auf langfristig prognostisch aussagekräftigen Daten, weil es die schlichtweg nicht gibt. In Wirksamkeitskategorie 1 befinden sich alle Substanzen, die früher als so genannte „Basistherapien“ bezeichnet wurden, also die verschiedenen Interferone (Betaferon®, Extavia®, Rebif®, Avonex®, Plegridy®), Glatirameroide (Copaxone®, Clift®), Teriflunomid (Aubagio®) und Dimethylfumarat (Tecfidera®). In Wirksamkeitskategorie 2 stecken Fingolimod (Gilenya®), Ozanimod (Zeposia®) und Cladribin (Mavenclad®), in Wirksamkeitskategorie 3 Natalizumab (Tysabri®), die Anti-CD-20-wirksamen Medikamente Ocrelizumab (Ocrevus®) und Rituximab (ohne Zulassung für MS, kann „off label“ eingesetzt werden) sowie Alemtuzumab (Lemtrada®). Innerhalb der Wirksamkeitskategorien 1 und 2 erfolgt keine weitere Priorisierung. Aber in der Wirksamkeitskategorie 3 wird zum einen nach dem JC-Virusstatus unterschieden – JC-positive Patient*innen sollen primär nicht mit Tysabri eingestellt werden –, zum anderen soll Alemtuzumab immer erst als letzte Option eingesetzt werden, wenn keine der anderen Substanzen in Frage kommt.

Die aus unserer Sicht sehr wichtige Empfehlung A22 äußert sich zur Therapieindikation beim Radiologisch isolierten Syndrom (RIS). Als RIS wird die Konstellation bezeichnet, dass man in der MRT als Zufallsbefund MS-typische Herde findet, ohne dass neurologische Symptome vorhanden wären. In dieser Situation darf die MS-Diagnose nicht gestellt werden. Dennoch sind uns einige Fälle bekannt, wo genau das passiert ist, und eine Therapie mit einer der dafür nicht zugelassenen Immuntherapien aus Wirksamkeitskategorie 1 begonnen wurde. Aus Studien ist bekannt, dass in etwa 50% der Fälle aus einem RIS im Lauf von 10 Jahren eine MS wird, und dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, wenn bei MRT-Kontrollen wiederholt neue Herde dazu kommen. Die Leitlinie konstatiert in Empfehlung A22 deshalb, dass ein RIS grundsätzlich nicht behandelt werden soll, aber in den Fällen wiederkehrender MRT-Aktivität behandelt werden darf, wenn der Patient*innenwunsch besteht, und vorher darüber aufgeklärt wurde, dass weder für den erhofften Behandlungserfolg wissenschaftliche Daten vorliegen noch es eine Immuntherapiezulassung für das RIS gibt. 

Die Empfehlungen A23 bis A46 behandeln die Entscheidungsfindung bei schubförmiger MS (RRMS) sowohl für bisher unbehandelte Patient*innen als auch für solche, die bereits eine Immuntherapie erhalten. Grundsätzlich spricht sich die Leitlinie für ein Vorgehen aus, bei dem, ähnlich wie bisher, mit einem Präparat der niedrigsten Wirksamkeitskategorie begonnen werden und erst dann eskaliert werden soll, wenn die Krankheitsaktivität damit nicht vermindert werden konnte. Ausnahmen sind in den Empfehlungen A28 und A29 festgelegt. A28 definiert einen „wahrscheinlich hochaktiven“ Verlauf bei bisher unbehandelten Patienten, wenn schwere Symptome, schlechte Rückbildung von Schüben oder eine sehr hohe Schubfrequenz zu Krankheitsbeginn gegeben sind. Nur diesen MS-Erkrankten sollen Präparate der Wirksamkeitskategorie 2 oder 3 als erste Immuntherapie angeboten werden (A29). Ein MRT-Befund mit vielen MS-typischen Herden allein, ohne eine dieser klinischen Symptomkonstellationen, reicht nicht aus, um von einem hochaktiven Verlauf auszugehen oder diesen gar zu behandeln. Die Leitlinie spricht sich somit klar gegen „Hit hard and early“, also die Therapie aller Patient*innen in frühen Krankheitsphasen aus, und verwendet im Gegensatz dazu den Begriff „Treat to target“, was man mit „am konkreten Bedarf orientierte Auswahl der Therapie“ übersetzen kann.

Mit der Empfehlung A32 wird eine Definition des entzündlich aktiven Verlaufs unter einer laufenden Immuntherapie vorgenommen. Hier fand sich in der Leitliniengruppe eine Mehrheit dafür, dass, neben Schüben unter Therapie oder der Kombination aus Schüben und neuen MRT-Herden, auch die wiederholte alleinige MRT-Aktivität unter Immuntherapie die Definition der entzündlichen Aktivität erfüllt, was dann in der Konsequenz zu einer Therapieeskalation führen soll (A33). Zu beachten ist allerdings, dass der Zeitfaktor eine einschränkende Rolle spielt, da diese wiederholte Aktivität innerhalb von zwei Jahren stattgefunden haben muss. Ein neuer Schub oder neue MRT-Aktivität erst nach drei oder mehr Jahren würde nicht als Begründung für einen Therapiewechsel herhalten können. Man wird in Zukunft jedenfalls im Einzelfall genauer als bisher evaluieren müssen, ob das Ausmaß der jeweiligen entzündlichen Aktivität wirklich höhere Therapierisiken rechtfertigt.

Ab Seite 49 wird die Immuntherapie der primär progredienten MS (PPMS) besprochen. Hier stehen derzeit nur Ocrelizumab und Rituximab zur Verfügung, die bei jüngeren PPMS-Erkrankten einen mäßigen Vorteil in Bezug auf die Behinderungsprogression gezeigt hatten und deshalb im Regelfall bei über 50-Jährigen nicht mehr eingesetzt werden sollten. Andere Immuntherapien wie z.B. Mitoxantron sollten nicht mehr verwendet werden. Die Kortison-Pulstherapie soll ebenfalls nicht mehr als Immuntherapie eingesetzt werden, kann aber als symptomatische Therapie bei der PPMS zum Einsatz kommen. Ausführlich wird ab Seite 51 die Immuntherapie der sekundär progredienten MS (SPMS) behandelt, die hierzu in eine aktive und in eine nicht aktive SPMS unterteilt wird. Lediglich für die aktive SPMS mit Schüben und/oder neuer MRT-Aktivität stehen zugelassene Immuntherapien zur Verfügung. Empfehlung A53 spricht, entsprechend der mäßigen Wirksamkeit dieser Immuntherapeutika, eine so genannte offene Empfehlung, eine „kann-erwogen-werden“-Empfehlung, für die Behandlung mit Siponimod, Beta-Interferone, Cladribin oder CD-20-Antikörpern (Ocrelizumab und Rituximab) aus. Für die nicht aktive SPMS ohne aufgelagerte Schübe oder neue MRT-Herde, also die überwiegende Mehrheit der langjährig an SPMS erkrankten Patient*innen, existieren weiterhin keine Therapieoptionen zur Verminderung der Behinderungsprogression. Mitoxantron soll aufgrund der hohen Nebenwirkungswahrscheinlichkeit nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt werden.

Die nicht aktive SPMS kann sich aus einer RRMS unter laufender Immuntherapie heraus entwickeln. Handelt es sich um eine Immuntherapie der Wirksamkeitskategorie 1, sollte diese beendet werden. Im Falle von Immuntherapien der Kategorien 2 oder 3 kann ebenfalls das Absetzen erwogen werden, wobei hier die Gefahr wieder aufflackernder Schubaktivität besteht, worüber aufgeklärt werden muss.

Ähnliches gilt für das Absetzen einer laufenden Immuntherapie bei RRMS und entzündlich inaktivem Verlauf. Wie am Anfang des Artikels erwähnt, kann auch hier das Absetzen einer Therapie der Wirksamkeitskategorie 1 nach mindestens fünf Jahren Stabilität erwogen werden, jedoch kann für die Substanzen der Kategorien 2 oder 3 keine einheitliche Empfehlung ausgesprochen werden. Nur bei Cladribin und Alemtuzumab, die gemäß der Zulassung über einen begrenzten Zeitraum appliziert werden, ist anschließend ohnehin eine Therapiepause vorgesehen.

Kapitel B: Einzelne Immuntherapeutika und andere Therapieverfahren

In diesem Kapitel werden alle Einzelsubstanzen im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und ihre Nebenwirkungen besprochen. Am Ende des Kapitels finden sich ausführliche Studientabellen. Wer mag, kann hier im Einzelnen nachlesen, welche Datenlage den jeweiligen Empfehlungen zugrunde liegt. Die Leitlinie erklärt an dieser Stelle unter „Sonstige Therapien“ zusätzlich einige nicht, oder noch nicht, etablierte Therapieverfahren: die autologe Stammzelltransplantation, Biotin, Ernährung und Genussgifte sowie Vitamin D. Interessant ist auch die Preisaufstellung der Immuntherapeutika auf Seite 110.

Kapitel C: Besondere Situationen

Neuland betritt die MS-Leitlinie damit, sich zu den Therapieoptionen in Lebenslagen zu äußern, für die es nur wenige Studiendaten gibt. Bislang fühlte man sich als Betroffene*r dann alleine gelassen oder der persönlichen Meinung einzelner Neurolog*innen überlassen. Besonders sensibel ist der Themenkomplex „MS und Schwangerschaft“, für den hier erstmals in einer Leitlinie die Datenlage für die Einzelsubstanzen zusammengestellt und Empfehlungen oder Warnungen zum Einsatz vor bzw. während der Schwangerschaft und Stillzeit abgegeben wurden. Leider wird man gegenwärtig oft erst unter einer bereits laufenden Therapie darüber informiert, dass man sie bei Planung einer Schwangerschaft würde absetzen müssen. In diesem Kapitel kann man sich zukünftig über etwaige Einschränkungen bezüglich der Realisierung eines Kinderwunsches informieren, bevor man mit einer bestimmten Immuntherapie beginnt. 

Ebenfalls schlecht untersucht ist die Behandlung der MS im höheren Erwachsenenalter über 55 Jahre, weil mit Ausnahme von ein paar PPMS-Studien diese älteren Patient*innen meist von vornherein von der Studienteilnahme ausgeschlossen waren. Aus Metaanalysen, die die wenigen älteren Studienteilnehmer mehrerer Studien zusammen auswerteten, weiß man, dass Immuntherapien bei den Älteren über 53 Jahren kaum noch einen Nutzen bringen können. Zum einen ist das Immunsystem dann nicht mehr so aktiv und die spontane Schubrate sinkt erheblich, zum anderen nimmt aufgrund von Begleiterkrankungen die Nebenwirkungswahrscheinlichkeit zu. Neudiagnosen in dieser Altersgruppe sind besonders sorgfältig zu stellen, weil Herde auch aus Durchblutungsstörungen resultieren und mit MS-Herden verwechselt werden können. Auch wenn die Leitlinie aus diesen Gründen keine grundsätzliche Empfehlung für eine Immuntherapie der MS bei älteren Betroffenen ausspricht, so legt sie doch Wert darauf, dass bei einer MS mit entzündlicher Aktivität das Alter allein nicht gegen eine Immuntherapie spricht (C31). Im Hintergrundtext auf Seite 153 wird erläutert, dass es bei älteren Patient*innen nach dem Beenden einer Immuntherapie nur sehr selten zu neuen Schüben kommt.

Bei einem Teil der Betroffenen wird die MS schon im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert. Auch in der neuen MS-Leitlinie wird grundsätzlich ein therapeutisches Vorgehen wie bei Erwachsenen, mit Therapiebeginn mit einer Substanz der Wirksamkeitskategorie 1, favorisiert. Da für Kinder und Jugendliche mit Fingolimod nur eine einzige Substanz aus der Wirksamkeitskategorie 2 und keine in Kategorie 3 zugelassen ist, folgt die Leitlinie bei der Therapieeskalation einfach dem Zulassungstext von Fingolimod (C36 und C37). Dabei ist zu beachten, dass man Fingolimod als erste Therapie bei bisher unbehandelten Kindern und Jugendlichen nur im Falle einer „rasch fortschreitenden RRMS mit zwei oder mehr Schüben mit Behinderungsprogression in einem Jahr“ und mit neuen Herden in der MRT anwenden darf. Wenn die Zulassungsbedingungen nicht erfüllt sind, es also nicht zu einer Behinderungsprogression gekommen ist, etwa wenn eine gute Schubrückbildung erfolgt ist, dann wird hier auch keine Therapieempfehlung ausgesprochen.

Die Besonderheiten bei Fragen der Therapieumstellung werden am Schluss des Kapitels C erörtert. Hier geht es vor allem um Fragen zu Neben- und Wechselwirkungen aufeinanderfolgender Immuntherapien, die zunächst allgemein und dann in Bezug auf die Einzelsubstanzen erörtert werden.

Kapitel D: Symptombezogene Therapie

Symptomatische Therapieempfehlungen nehmen in der MS-Leitlinie ähnlich viel Raum ein wie die Behandlungsempfehlungen zur Immuntherapie der MS in Kapitel A. Die Einleitung bietet zunächst einen kritischen Überblick und geht besonders auf die oft begrenzte Datenlage bei den meist nicht-medikamentösen Therapieverfahren ein. Es fehlen hier die finanziellen und personellen Mittel zur Studiendurchführung, die im Bereich der Immuntherapien im Übermaß vorhanden sind. Obwohl die Lebensqualität im Alltag von MS-Symptomen geprägt wird, ist hier, anders als bei den Immuntherapien, oft ein therapeutischer Nihilismus weitverbreitet. Krankenkassen nutzen die Datenlücke bei symptomatischen Therapien zu Lasten der Patient*innen, um die Kostenübernahme sinnvoller, aber nicht gut belegter Maßnahmen abzulehnen.

Die Leitlinie bietet eine ausführliche Besprechung der möglichen Therapieoptionen der häufigen und einschränkenden Symptome. Die zahlreichen, Experten-basierten Empfehlungen, die auf der aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Grundlage aufbauen, sollen Neurolog*innen und Patient*innen auch bei der Argumentation gegenüber den Krankenkassen unterstützen. 

Fazit

Mit der neuen MS-Leitlinie wurde für Patient*innen einiges erreicht. Erstmals werden für eine Vielzahl an typischen Behandlungskonstellationen auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz – soweit möglich, da es nicht für alle Konstellationen genug Daten gibt – im Konsens aller Beteiligten nachvollziehbare und individualisierbare Behandlungsempfehlungen gegeben, die auch die Therapiesicherheit im Blick haben. Dennoch bleiben unbefriedigend gelöste Fragen offen. Wie wir bereits früher geschrieben hatten,[2]J. Scheiderbauer / C. Jung: Hit hard and early: Multiple Sklerose und „hochaktive“ Verläufe, URL: https://ms-stiftung-trier.de/multiple-sklerose-und-hochaktive-verlaeufe/#more-641, 22.06.2018 … Weiterlesen ist der Begriff „hochaktiv“ in der Versorgung von MS-Erkrankten etabliert, wenn man eine Immuntherapie mit einer der stärker wirksamen, aber auch risikoreichen Medikamente beginnen will, obwohl das nicht einheitlich definiert ist. Leider wurde in der Leitlinie nur „wahrscheinlich hochaktiv“ als Definition für bisher unbehandelte MS-Betroffene mit schubförmiger MS (RMS) festgelegt, die in diesem Fall sofort mit einer sehr intensiven Immuntherapie starten können. Für MS-Erkrankte unter bereits laufender Immuntherapie gelang das nicht, da Studiendaten fehlen, wie der weitere Aktivitätsverlauf dieser Betroffenen aussieht. Es wird offenbar einfach weiterhin angenommen, dass „einmal hochaktiv, immer hochaktiv“ bedeutet. Die andere Problematik sehen wir in dem immer noch zu hohen Stellenwert, den MRT-Befunde in der Beurteilung des Krankheitsverlaufs haben. Die Aussagekraft neuer MRT-Herde ist für den individuellen Fall schlecht, man sollte unseres Erachtens keine Therapieentscheidungen davon abhängig machen, wenn es keine begleitende Verschlechterung der neurologischen Symptomatik gibt. 

Die MS-Leitlinie ist aus Sicht ihrer Kritiker*innen auf jeden Fall zu sehr an den Patient*innen orientiert. Eine Gruppe von MS-Expert*innen, die teils an früheren Leitlinien beteiligt waren, aber diesmal aufgrund ihrer großen Interessenkonflikte nicht mehr teilnehmen durften, hat sich nämlich in einer formlosen „Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) zusammengeschlossen und ihre Leitlinienkritik samt Gegenentwurf veröffentlicht.[3]H. Wiendl et al.: Kommentar der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) zur S2k-Leitlinie Multiple Sklerose, URL: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s42451-021-00353-3.pdf, … Weiterlesen Sie bemängelt genau das, was uns als Betroffene besonders wichtig ist: Es werde zu viel Wert auf Sicherheit gelegt, die konkreten Empfehlungen schränkten die ärztliche Therapiefreiheit ein, man müsse in jedem Fall sofort therapieren usw. Man kann am Beispiel dieser Kritik gut erkennen, wie wichtig der Ausschluss von Leitlinienautoren mit besonders gravierenden Interessenkonflikten ist. Im Falle der MS-Leitlinie konnte so verhindert werden, dass immer aggressivere Therapieansätze unreflektiert eingesetzt werden sollen.

Um die Aktualität der Empfehlungen sicherzustellen, wird zukünftig eine jährliche Aktualisierung stattfinden. Zusätzlich ist die Erstellung einer in verständlicher Sprache gehaltenen Patient*innenleitlinie geplant, damit MS-Betroffene leichter die für sie geltenden Empfehlungen verstehen und sie mit ihren Neurolog*innen diskutieren können. 

Bei allen Empfehlungen sollte man im Hinterkopf behalten, dass Leitlinienempfehlungen nicht bindend sind, weder für Ärzt*innen noch für Patient*innen. Man kann – muss manchmal sogar – davon Abstand nehmen. Wenn Ihnen allerdings ein nicht leitlinienkonformes Vorgehen empfohlen wird, sollte es gut begründet sein. In Kenntnis der aktuellen Leitlinienempfehlungen für Ihre spezielle Situation wird es Ihnen leichter fallen, mit Ihren Ärzt*innen auf Augenhöhe kommunizieren zu können. Die hohe Dynamik der Arzneimittelentwicklung bei MS und laufende Studien zu wichtigen Fragestellungen machen in Zukunft häufigere Anpassungen erforderlich als in der Vergangenheit. Wir hoffen sehr, dass die Patient*innenperspektive nicht mehr aus dem Blickfeld geraten wird.

Jutta Scheiderbauer

Foto: Markus Winkler/Unsplash

Quellen

Quellen
1

B. Hemmer et al.: „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2021“, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien [ 16.05.2021]; direkte URL: https://dgn.org/wp-content/uploads/2021/04/030050_LL-Report_Multiple_Sklerose_2021.pdf [24.06.2021]. Dieser Artikel geht nur auf die Empfehlungen zur Multiple Sklerose ein, nicht auf die verwandten Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen in Kapitel E.

2 J. Scheiderbauer / C. Jung: Hit hard and early: Multiple Sklerose und „hochaktive“ Verläufe, URL: https://ms-stiftung-trier.de/multiple-sklerose-und-hochaktive-verlaeufe/#more-641, 22.06.2018 [22.06.2021].
3 H. Wiendl et al.: Kommentar der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) zur S2k-Leitlinie Multiple Sklerose, URL: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s42451-021-00353-3.pdf, 17.05.2021 [22.06.2021].