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MS-Medikamente nehmen oder nicht? Es gibt Fälle, die einen Nutzen davon haben. Ein Plädoyer.

Oft hat man den Eindruck, dass es für Institutionen, egal ob Uniklinik, Fachgesellschaft oder Betroffenenverbände, immer nur zwei Positionen gibt, nämlich ohne Wenn und Aber für MS-Immuntherapien oder dagegen zu sein. In der Beratungsarbeit der MS-Stiftung Trier bemühen wir uns immer um ein „sowohl als auch“. Denn es gibt Fälle, wo diese Therapien eine messbare Wirkung oder auch nur einen subjektiven Nutzen für die Betroffenen haben. Aber wann genau ist das so? Und welche Kriterien spielen eine Rolle bei der Entscheidung für oder gegen ein Medikament?

Grundlegendes

Immuntherapien gegen MS sind prinzipiell wirksam, das haben sie in vielen verschiedenen Studien bewiesen. Es wurde gezeigt, dass sie, bei einem Teil der Betroffenen, die Anzahl der Schübe reduzieren und sich auf die Läsionslast in der MRT auswirken können. In welchem Umfang dies geschieht, hängt von der Art des Medikamentes und der individuellen MS jedes Patienten ab. Denn Schubintensität, Schubrückbildung und Schubhäufigkeit variieren erheblich von Patient zu Patient.

Wofür es keine wissenschaftlichen Belege gibt, ist ein günstiger Einfluss der Immuntherapien auf den Anteil der Behinderungszunahme, die durch die chronischen degenerativen Schäden an Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark verursacht wird. Auch helfen sie nicht bei Symptomen wie Fatigue, Schwindel oder Schmerzen. Für diese Wirkungsbereiche wurden die Medikamente nicht entwickelt und zugelassen. Es wäre also unsachlich, solche Wirkungen von ihnen zu verlangen.

Hilfe bei vielen Schüben

Es gibt Betroffene, die einen Schub nach dem anderen haben. Auch wenn die Schübe sich vollständig wieder zurückbilden, werden sie an sich und ihre Symptome zum größten Problem für die Betroffenen. Man ist ständig mit Symptomen konfrontiert, die bei der Ausübung des alltäglichen Lebens beeinträchtigen. Hier kann ein Medikament eine große Hilfe sein. Wirkt das Medikament, treten Schübe weniger häufig auf oder werden vollständig unterdrückt. Nicht nur die Beeinträchtigungen werden durch das Fehlen von Schüben weniger, sondern auch die Sorge darüber, dass bald wieder der nächste Schub kommt. Das Gefühl von Kontrollverlust kann also eingedämmt werden. Nebenwirkungen, die auch bei jenen Betroffenen auftreten können, die den Nutzen des Medikamentes für sich als hoch bewerten, werden aber eher in Kauf genommen  – oder als weniger einschränkend wahrgenommen – da durch die geringere Anzahl an  Schüben ein Plus an Lebensqualität gewonnen wurde.

Verhinderung schwerer Schübe

MS-Verläufe sind sehr unterschiedlich. Manche Betroffenen starten gleich nach Diagnose in eine Phase sehr schwerer Schubsymptomatik und geringer Rückbildungstendenz. Diese Betroffenen können, unbehandelt, in solchen Zeiten, allein durch Schubaktivität, sehr schnell z.B. ihre Mobilität verlieren. Dieser Krankheitsverlauf entspricht dann dem Bild, das in den Köpfen vieler Menschen immer noch über MS vorherrscht und das für den schlechten Ruf der Erkrankung verantwortlich ist. Aber nach einem milden Verlauf zu Beginn können solche Krankheitsphasen auch später noch auftreten. Es sind vor allem solche Fälle, die Neurologen vor Augen haben, wenn sie ihren Patienten Immuntherapeutika so nachdrücklich empfehlen. Auch wenn es, zu Beginn der Erkrankung, kaum möglich ist, Vorhersagen zur Prognose zu machen und die Läsionsanzahl in der MRT allein kein geeignetes Kriterium ist, so sollte sich eine Therapie an der Schwere und ggf. schlechten Rückbildungstendenz von Schüben beim einzelnen Betroffenen orientieren; nur dann ist eine intensivere und risikoreichere Immuntherapie gerechtfertigt, um den Prozess zu unterbrechen und Zeit zu schaffen, damit sich Betroffene vom letzten Schub erholen können. Leider gibt es auch hier keine Garantie für eine ausreichende Wirkung im Einzelfall.

Für und Wider

Die Tatsache, dass der genaue Verlauf der Erkrankung nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden kann, empfinden MS-Betroffene oft als größte Sorge. Niemand weiß, ob und wie viele Schübe noch kommen und welches Ausmaß an Beeinträchtigung sie mit sich bringen werden, falls überhaupt. Auch wenn man heute davon ausgeht, dass ein Großteil der Diagnostizierten keinen schlimmen MS-Verlauf zu erwarten hat und Schübe sich gut zurückbilden, bleibt bei vielen eine große Unsicherheit. Was ist, wenn ich einen Schub bekomme, der mich stark behindert? Vielleicht könnte ein Medikament das ja verhindern? Hinzu kommt die Angst vor einer späteren schleichenden Behinderungszunahme und die Hoffnung, auch diese durch Immuntherapien hinauszögern zu können, selbst wenn das wissenschaftlich bisher nicht belegt ist. Die Einnahme eines Präparates bietet dem Betroffenen dann die „Gewissheit“, alles getan zu haben, um einen Schub und eine damit eventuell einhergehende Behinderung zu verhindern. Manchmal bietet das Medikament auch einen Schutz vor Selbstvorwürfen bzw. Schuldzuschreibungen, man kann dann bei inneren wie von außen kommenden Vorwürfen entgegenhalten, dass man „alles getan hat“. Auf der anderen Seite empfinden viele Betroffene den Entscheidungsprozess bezüglich Immuntherapien als Wahl zwischen Pest und Cholera. Es kann die Angst vor schlechter Verträglichkeit der Medikamente und schweren, auch lebensbedrohlichen Risiken im Vordergrund stehen, vor allem, wenn man bereits entsprechende negative Erfahrungen gemacht hat.

Fazit

Es gibt keinen Nachweis dafür, dass die aktuell für MS verfügbaren Medikamente, über die Wirkung der Schubverhinderung hinaus, den Krankheitsverlauf wesentlich beeinflussen können. Auch haben sie keine Wirkung auf Symptome wie Schwindel, Schmerzen oder Fatigue. Ihre Wirksamkeit haben sie bei der Reduktion von Schüben bei einem Teil der Betroffenen in verschiedenen Studien unter Beweis gestellt. Wer viele oder schwere Schübe hat, oder wem die Einnahme eines Medikaments Beruhigung vermittelt, gewinnt durch sie ein Plus an Lebensqualität. Wichtig ist aber auch hier, Risiken, Neben- und Wechselwirkungen diesem Plus gegenüber zu stellen und den Einzelfall genau zu betrachten. Gerade wenn weitere Grunderkrankungen vorliegen oder regelmäßig weitere Medikamente eingenommen werden, sollte man sich gut informieren, um unliebsamen „Überraschungen“ vorzubeugen. Und zu guter Letzt hat jeder Betroffene zu jeder Zeit die Freiheit, sich zu entscheiden, wie er möchte, für oder gegen Medikamente. Niemand ist gezwungen, eine für alle Zeit gültige Entscheidung für eine Dauertherapie zu treffen oder sich ein für alle Mal gegen Immuntherapien zu stellen, sondern kann es sich auch anders überlegen, wenn die Ausgangsbedingungen nicht mehr stimmen. Es gibt keinen Weg, der grundsätzlich richtig oder falsch ist, sondern wir raten Betroffenen dazu, ihre Entscheidungen in Einklang mit ihren persönlichen Präferenzen und Befürchtungen zu treffen. Überwiegen die Sorgen um einen schlechten Krankheitsverlauf ohne Medikamente gegenüber der Angst vor Therapierisiken, dann sollte man diesen Weg auch gehen.

Christiane Jung und Jutta Scheiderbauer