Die Berichterstattung über eine amerikanische MS-Studie verdreht deren Sinn und verbreitet einen wissenschaftliche Trugschluss unter Ärzt*innen und MS-Betroffenen gleichermaßen.
Leider sind zahlreiche Informationsseiten sowohl für Ärzt*innen als auch für Patient*innen, sogar das Deutsche Ärzteblatt und die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband (DMSG) e.V., den Fehlschlüssen aufgesessen. Meldungen wie „Multiple Sklerose: Immer mehr Patienten ohne Behinderungen“ und „Mehr Lebensqualität und länger selbständig dank Multiple Sklerose-Therapien“ und viele andere suggerieren einen Langzeitnutzen durch die verfügbaren MS-Medikamente, obwohl das weder die primäre Fragestellung noch das Ergebnis der Studie war. Gleichzeitig lässt man unter den Tisch fallen, dass die Eignung von MRT und NEDA durch diese Studie in Frage gestellt ist. Tatsächlich wurde untersucht, ob Kurzzeitverlaufsparameter im Zeitraum über zwei Jahre wie NEDA (No evidence of disease activity = Freiheit von Krankheitsaktivität gemessen an Schubhäufigkeit, MRT-Läsionen und Behinderungsprogression) oder auch MRT-Aktivität alleine aussagekräftig für die langfristige Behinderungsprogression sind, und das war nicht der Fall. Wie schafft man es, den Sinn so zu verdrehen?
Indem man Äpfel mit Birnen vergleicht. Heute mittels McDonald-Diagnosekriterien identifizierte MS-Patient*innen sind historischen Kontrollgruppen nicht vergleichbar. Selbstverständlich ist im statistischen Mittel die Prognose heutiger Betroffener besser, denn durch die MRT werden jetzt auch MS-Diagnosen gestellt, die früher aufgrund ihres leichten Verlaufes nicht erkannt worden wären. Aus Obduktionsfunden bei klinisch gesunden Menschen hatte man schon vor der MRT-Ära geschätzt, dass sich die Diagnosezahl verdoppeln würde, wenn man diese Fälle erkennen würde, und dies ist mittlerweile der Fall. Hinzu kommt die verkürzte Zeit zwischen Erstsymptomatik und Diagnosestellung, die ihren Teil dazu tut, dass weniger Patient*innen nach 10 Jahren eine schwere Behinderung entwickelt haben als früher. Nicht vergleichbare Kontrollgruppen als scheinbaren Beleg für einen Therapienutzen heranzuziehen, ist eigentlich ein klassischer wissenschaftlicher Anfängerfehler.
Ob, bei welchen Patient*innen und in welchem Ausmaß ein Langzeitnutzen durch Immuntherapien bei MS erbracht wird, konnte aus dieser Untersuchung nicht geschlossen werden, ca. 38% wurden zu Beginn auch gar nicht therapiert, und ansonsten schweigt sich der Originalartikel über die Medikation im weiteren Studienverlauf ganz aus, stellt keinen Vergleich zwischen behandelten und unbehandelten Studienteilnehmenden an. Wie schon oben erwähnt, wurde stattdessen gezeigt, dass eine kurzzeitige Krankheitsaktivität, gemessen mittels MRT-Herden, Schubanzahl oder den NEDA-Kriterien, keinen prognostisch negativen Einfluss auf die langfristige Behinderung in dieser Studienpopulation hatte. Und eine Eskalationstherapie hatte übrigens auch keinen positiven Einfluss. Im Klartext: Regelmäßige „Routine-MRTs“ bei Patienten mit stabilem MS-Verlauf und NEDA als Therapieziel waren sinnlos.
Es muss Konsequenzen für die Versorgung von Patient*innen haben, wenn unsinnige Untersuchungen durchgeführt werden, genau wie Therapiewechsel aufgrund von MRT-Aktivität, denn sie bringen keinen Nutzen, aber potentiellen Schaden, Nebenwirkungen, Spätfolgen, PML und die noch nicht näher klassifizierbaren Risiken durch Gadolinium-KM-Ablagerungen im Körper, nicht zuletzt unnötige Ängste bei den Betroffenen. NEDA als Therapieziel wurde von Experten eingeführt, die Patient+innen möglichst früh mit einer Eskalationstherapie behandeln wollen, obwohl sie keinen wissenschaftlichen Nachweis für einen Langzeitnutzen haben. Aber wenn man herausfindet, dass es nichts bringt, muss man NEDA auf den wissenschaftlichen Prüfstand bringen. MS-Betroffene hätten mehr von guter Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Patient*innen, zeitnahen Terminen bei Beschwerden und individueller Behandlung, die sich am klinischen Befinden orientiert.
Jutta Scheiderbauer
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Vielen Dank für den Artikel! Hatte in der Tageszeitung eine Randnotiz dazu gelesen und war überrascht über die eindeutige Aussage, die dort gemacht wurde. Konnte mit google/pubmed allerdings den dazugehörigen Originalartikel nicht finden. Den habe ich jetzt und mein Verdacht, dass dort wieder mal eine Fehlinterpretation vorlag wurde bestätigt.