Gilenya für Kinder

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“seit September 2010 in der Europäischen Union zugelassen. Es ist wie alle so genannten „verlaufs-modulierenden“ Medikamente bei MS eine Immuntherapie, die die entzündlichen Komponenten der MS-Pathogenese abschwächen kann, aber die chronische Neurodegeneration nicht günstig beeinflusst. Auch…”

Gilenya® ist auch für Kinder- und Jugendliche mit MS zugelassen, obwohl sich die Ergebnisse der Zulassungsstudie gar nicht auf Kinder und Jugendliche übertragen lassen. Wie kam es dazu?

Fingolimod, Handelsname Gilenya®, ist für Erwachsene mit schubförmig-remittierender Multiple Sklerose (RRMS) aufgrund zweier Zulassungsstudien((L. Kappos et al.: A placebo-controlled trial of oral fingolimod in relapsing multiple sclerosis. New England Journal of Medicine, 2010; 362 (5), S. 387–401; P.A. Calabresi et al.: Safety and efficacy of fingolimod in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis (FREEDOMS II): a double-blind, randomised, placebo-controlled, phase 3 trial, in: The Lancet Neurology, 2014; 13 (6), S. 545–56.)) ((seit September 2010 in der Europäischen Union zugelassen. Es ist wie alle so genannten „verlaufs-modulierenden“ Medikamente bei MS eine Immuntherapie, die die entzündlichen Komponenten der MS-Pathogenese abschwächen kann, aber die chronische Neurodegeneration nicht günstig beeinflusst. Auch wenn leider für Fingolimod nach der Zulassung keine klinischen Studien zur optimalen Anwendung im Vergleich mit anderen MS-Medikamenten durchgeführt wurden, so hat man immerhin schon seit über acht Jahren Gelegenheit, Nebenwirkungen nach der Zulassung zu beobachten. Insofern kennt man nicht nur die, die in den Zulassungsstudien und deren Verlängerungsstudien auftraten, sondern auch die Therapiefolgen im „Routinebetrieb“, woraus mehrere Rote-Hand-Briefe((Wikipedia: Rote Hand Brief, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Rote-Hand-Brief [25.04.2019].)) resultierten. Erst Ende 2018 erfolgte eine Warnmeldung der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA, dass es nach Absetzen von Fingolimod häufiger zu einem so genannten Rebound kommen kann, einem sehr starken Schub, der bleibende Schäden stärker als die vor Therapiebeginn hinterlassen kann. Um die gleiche Zeit, im November 2018, erhielt Novartis zusätzlich die Zulassung für Fingolimod bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 17 Jahren mit RRMS, nachdem die einzige Zulassungsstudie PARADIGMS((T. Chitnis et al.: „Trial of Fingolimod versus Interferon Beta-1a“, in: Pediatric Multiple Sclerosis. New England Journal of Medicone, 2018; 379, S. 1017–27.)) mit 215 jungen Patienten eine geringere Schubrate von mit Fingolimod behandelten Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu der mit intramuskulärem Interferon beta 1a (Avonex®) behandelten Gruppe gezeigt hatte.

Um die Ergebnisse der PARADIGMS-Studie bewerten zu können, muss man zunächst die Besonderheiten der Kinder- und Jugendlichen-MS betrachten. Hier ist die Schubrate generell höher als bei der Erwachsenen-MS, und auch die Krankheitsaktivität in der MRT ist höher. Andererseits erfolgt die Symptomrückbildung nach einem Schub schneller und vollständiger, so dass insgesamt der Behinderungsgrad sehr viel langsamer über die Zeit ansteigt. Der Übergang in die sekundäre Progression (SPMS) erfolgt deutlich später nach Erstdiagnose. Ein primär progredienter Verlauf (PPMS) ist sehr selten.((Definition und Epidemiologie S1-Leitlinie Pädiatrische Multiple Sklerose Stand 01/2016, URL: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-014l_S1_Multiple-Sklerose_Kinderalter_2016-02.pdf [25.04.2019].)) Eine Auswertung des populationsbasierten MS-Registers von South-East Wales in Cardiff ergab folgende Zahlen: 111 von 2068 (5,4%) der MS-Betroffenen im Register hatten erste MS-Symptome im Alter unter 18 Jahren gezeigt. Im Vergleich zu den Betroffenen mit Erstmanifestation ab 18 Jahren war bei diesen das Intervall zwischen dem ersten und dem zweiten Schub mit 5 Jahren gegenüber 2.6 Jahren länger, die PPMS trat in 0.9% der Fälle gegenüber 8.5% bei Erwachsenen auf. Die durchschnittliche Zeit bis zur Entwicklung der SPMS war verlängert (32 gegenüber 18 Jahren), und der Anstieg des EDSS-Wertes((Die EDSS Skala, in: e-med forum. URL: https://www.multiple-sklerose-rw.de/EDSS-Skala.697.0.html [25.04.2019].)) verlief langsamer: EDSS4 23.8 gegenüber 15.5 Jahren, EDSS6 30.8 gegenüber 20.4 Jahren, EDSS8 44.7 gegenüber 39 Jahren. Auf die gesamte Lebensspanne betrachtet, entwickelten die im Jugendalter Erkrankten natürlich durchschnittlich früher eine schwere Behinderung als die im Erwachsenenalter Erkrankten. Die Publikation zeigte aber ebenfalls, dass nicht alle Betroffenen, die jung erkrankt waren, später höhere Behinderungswerte oder die SPMS entwickelt haben.((K.E. Harding et al.: Long-term outcome of paediatric-onset multiple sclerosis: a population-based study, in: Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry, 2013; 84, S. 141–7.))

Behandelt wurde die pädiatrische MS bisher vor allem mit den Interferonen oder Glatirameracetat, bei höherer Krankheitsaktivität aber auch außerhalb der Zulassung („off label“) und ohne gute Studiendaten mit Fingolimod oder Natalizumab (Tysabri®).((Definition und Epidemiologie, in: S1-Leitlinie Pädiatrische Multiple Sklerose Stand 01/2016, URL: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-014l_S1_Multiple-Sklerose_Kinderalter_2016-02.pdf [25.04.2019].)) Denn pharmazeutische Hersteller hatten bislang kein Interesse daran gehabt, kontrollierte, randomisierte und verblindete Studien in der kleinen Gruppe der unter 18-Jährigen mit MS durchzuführen, so dass die vielen Erwachsenen-Medikamente hier nicht zur Verfügung standen.

Die PARADIGMS-Studie ist eine klassische kontrollierte, randomisierte und verblindete Studie. Die 215 Studienteilnehmer teilten sich auf in 107, die Fingolimod erhielten, und 108, die Avonex bekamen. Bei einem Körpergewicht unter 40 kg war die tägliche Fingolimod-Dosis 0,25 mg, ansonsten bekamen sie die Erwachsenendosis von 5 mg täglich. Es wurden Patienten im Alter von 10 bis 18 Jahren eingeschlossen, der überwiegende Anteil waren allerdings Jugendliche in der Pubertät. Die Erkrankungsdauer vor Studienbeginn war durchschnittlich ein gutes Jahr. Nicht vorbehandelt waren knapp zwei Drittel, die übrigen in den meisten Fällen mit einem Interferon. Die Studienteilnehmer hatten in den beiden Jahren vor Studienbeginn etwa zwei Schübe gehabt, also eine Schubrate von einem Schub pro Jahr. Die Behandlungsdauer in der Studie belief sich auf „bis zu 24 Monate“. Der primäre Endpunkt, also das Hauptergebnis der Studie, war die durchschnittliche jährliche Schubrate, die sich für Fingolimod auf 0.12 belief, für Avonex 0.67. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen belief sich also auf 0.55, so dass man sagen kann, dass durch das Fingolimod gegenüber Avonex den Studienteilnehmern im Schnitt ein Schub in zwei Jahren erspart blieb. Sekundäre Endpunkte waren MRT-Parameter, die durch Fingolimod ebenfalls günstiger beeinflusst wurden als durch Avonex, die aber für die Betroffenen keine wirkliche Relevanz haben. Die Behinderungsprogression dagegen, obwohl für Betroffene mit am Wichtigsten, wurde in dieser Studie nicht erhoben. Unerwünschte Ereignisse waren sehr häufig, sie traten bei 88.8% der Fingolimod-Gruppe und 95.3% der Interferon-Gruppe auf. Die unerwünschten Ereignisse, aufgrund derer die Therapie unterbrochen bzw. beendet werden musste, lag bei 11.2% bzw. 4.7% mit Fingolimod gegenüber 2.8% bzw. 2.8% mit Interferon. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse waren ebenfalls mit Fingolimod häufiger als mit Avonex (16.8% gegenüber 6.5%). Darunter kamen auch Krampfanfälle bei 5.6% der Fingolimodpatienten (0.9% unter Avonex) vor. Es gab Blutbildveränderungen, Infektionen, Laborwertveränderungen, Vaskulitis (Gefäßentzündung), Migräne, Muskelschwäche, Herzrhythmusstörungen uvm.

Aus vielerlei Gründen lassen sich die Studienergebnisse nicht auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen übertragen, die gemäß der Zulassung mit Fingolimod behandelt werden dürfen. Zum einen wurde die Zulassung durch die europäische Arzneimittelbehörde eingeschränkt auf diejenigen, die unter einer Vorbehandlung mit einem Interferon oder Glatirameracetat weiterhin hohe Krankheitsaktivität (Schübe bzw. MRT-Aktivität) haben, sowie diejenigen, die ohne oder mit Vorbehandlung eine schnell fortschreitende klinische Behinderung entwickeln. Zum zweiten wurde Fingolimod lediglich mit einer „Basistherapie“ verglichen, obwohl für Betroffene mit schwerem MS-Verlauf heute eher „Eskalationstherapien“ verwendet werden. Und drittens wurden in dieser Studie gar keine Betroffenen mit rasch fortschreitender MS untersucht. Infolgedessen hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) im aktuellen Nutzenbewertungsverfahren nur für eine kleine Untergruppe der pädiatrischen Patienten einen Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen gesehen, für alle anderen konnte der pharmazeutische Hersteller Novartis keine überzeugenden Belege liefern.((Fingolimod (multiple Sklerose bei Kindern und Jugendlichen) – Nutzenbewertung gemäß § 35a SGB V, in: IQWiG-Berichte – Nr. 746. URL: https://www.g-ba.de/downloads/92-975-2845/2019-01-01_Nutzenbewertung-IQWiG_Fingolimod_D-412.pdf [25.04.2019].)) Die Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) steht zurzeit noch aus.

Wie kann man all diese Aspekte unter einen Hut bringen und als Informationsgrundlage für die eigene Entscheidung verwenden? Gehen wir die wesentlichen Punkte noch einmal durch:

  1. Als Immuntherapie wirkt Fingolimod grundsätzlich immunschwächend auf die Entzündung bei MS. Die pädiatrische MS zeichnet sich durch ein Übergewicht der Entzündungsaktivität aus (Schübe, MRT), die durch Fingolimod folgerichtig auch besser beeinflusst werden kann als durch das schwächere Interferon. Die entzündliche Krankheitsaktivität übersetzt sich prinzipiell bei MS wenig in die Ausprägung der Behinderung, geschweige denn in die chronische Behinderungsprogression. Bei der pädiatrischen MS ist diese Diskrepanz noch ausgeprägter. Da sich in einem Zeitraum von 24 Monaten bei einem pädiatrischen Kollektiv im Durchschnitt an der Behinderung überhaupt nichts nachweisbar verändern kann, wurde dieser Parameter auch nicht erhoben. Deshalb erlaubt diese kurze, zweijährige PARADIGMS-Studie keinerlei Aussage zur Wirkung von Fingolimod auf den Behinderungsverlauf, schon gar nicht als langfristige Prognose, sondern lediglich zur Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Schubrate zu reduzieren.
  2. Die PARADIGMS-Studie hatte keine Betroffenen eingeschlossen, auf die das Kriterium der „rasch fortschreitenden MS“ zutraf. Dennoch hat die EMA Fingolimod unter anderem genau für ein solches Patientenkollektiv zugelassen. Damit folgt sie ihren früheren Entscheidungen, Anwendungsgebiete aufgrund von Sicherheitsbedenken auf Betroffene mit schlechterem Verlauf einzuschränken, ohne dass dafür Daten vorliegen. Leider besteht sie auch nicht darauf, dass entsprechenden Studien nachgeholt werden müssen. Sie überlässt die Betroffenen damit letztlich ihrem Schicksal mit der Ungewissheit, ob ein kurzzeitig nachgewiesener Effekt auf die Schubrate spätere unvorhersehbare Therapiefolgen aufwiegen kann.
  3. Schon bei dieser kleinen Patientenzahl der PARADIGMS-Studie gab es viele Hinweise auf Nebenwirkungen. Aufgrund der Studienkürze sind jedoch seltenere schwere Nebenwirkungen keineswegs auszuschließen. Es ist bis auf weiteres aber davon auszugehen, dass alle bei Erwachsenen aufgetretenen Nebenwirkungen auch bei den pädiatrischen Patienten auftreten können. Der Rebound-Effekt nach dem Absetzen wurde bislang nirgendwo in Bezug auf Kinder und Jugendliche thematisiert. Das junge Lebensalter der Betroffenen macht es wahrscheinlich, dass es über kurz oder lang zu einem Absetzen von Fingolimod kommen wird. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, ob der Reboundeffekt bei den Kindern und Jugendlichen ebenfalls auftritt, und ob er weniger oder stärker ausgeprägt sein wird. Bei den jungen Betroffenen kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu: das noch in Entwicklung befindliche Immunsystem der Heranwachsenden. Es ist unvorhersehbar, was eine immunsuppressive Substanz wie Fingolimod hier auslösen könnte.

Zusammenfassend ist bisher nur eines sicher: Die Schubrate kann durch Fingolimod reduziert werden, und in manchen Fällen ist Fingolimod dabei Avonex überlegen. Der Rest wird wie bei MS üblich im „Freilandversuch“ an Betroffenen getestet werden. Betroffene Kinder und Jugendliche, die durch MS-Schübe erheblich beeinträchtigt werden, die ausgeprägte Symptome haben und die eine schlechte Rückbildungsfähigkeit aufweisen sind diejenigen, für die diese Substanz einen Vorteil bringen könnte. Man muss von Ärzten fordern, strenge klinische Auswahlkriterien für die Fingolimod-Therapie anzulegen und sich nicht durch Marketing-Methoden wie gut honorierte Anwendungsbeobachtungen dazu verleiten zu lassen, unvorsichtig zu werden.

Von Jutta Scheiderbauer

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