Im April 2023 veröffentlichte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG)[1] eine Pressemitteilung – „Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich“[2] -, die es in sich hatte. Dr. Kaiser, Institutsleiter des IQWIG, kritisierte deutlich: „Viele Fragen, die den Betroffenen wichtig sind, können in diesem Vorbericht nicht beantwortet werden, weil es an Evidenz fehlt: Bei den untersuchten Wirkstoffen endete die Forschung meist nach der Zulassung.“ Das IQWIG war im Juli 2020 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) damit beauftragt worden, eine vergleichende Bewertung der Immuntherapeutika, die für die Behandlung der hochaktiven MS bei Erwachsenen zugelassen sind, also Alemtuzumab, Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid[3], durchzuführen. Mittlerweile wurde diese Bewertung durchgeführt und in Form des in der Pressemitteilung erwähnten Vorberichts[4] veröffentlicht.
Natürlich weiß die Fachwelt ganz genau, dass es mit dieser vergleichenden Evidenz nicht weit her ist, da entsprechende Therapieoptimierungsstudien nach der Zulassung schlicht nie durchgeführt wurden, und wir von der MS-Stiftung Trier und weitere Patientenvertreter:innen in der Leitlinienkommission und im GBA wissen das natürlich auch. Tatsächlich gibt es viele, objektiv nachvollziehbare Hindernisse, die dazu führen, dass wichtige Studien nicht initiiert werden. Ein Hauptproblem ist die ungesicherte Studienfinanzierung, und hier hakt Dr. Kaiser in der Pressemitteilung auch ein: „Vergleichende Untersuchungen, etwa in registerbasierten RCTs[5], könnten diese Forschungslücke aber schließen. Und eine gesetzliche Regelung zur Finanzierung könnte zu solchen Studien auch nach der Zulassung motivieren – für eine gute Patientenversorgung.“ Die Politik hat sich nämlich bisher einen schlanken Fuß gemacht und überlässt die klinische Medikamentenforschung einfach dem Markt. Doch pharmazeutische Hersteller haben selbstverständlich kein Interesse daran, nach der Zulassung Geld in Studien zu stecken, die das Anwendungsgebiet für das eigene Medikament wieder einschränken könnten, sollte sich herausstellen, dass es anderen Medikamenten in bestimmten Situationen unterlegen wäre. Die Industrie steckt ihren Etat daher lieber ins Marketing. Und in die vielfältige Unterstützung sowohl aufstrebender als auch bereits etablierter MS-Expert:innen … Und in Patient:innen-Programme … Gut fürs Image, schlecht für die Therapie, und teuer fürs Gesundheitssystem.
Nach dem gegenwärtigen Stand käme auf eine universitäre Forschungsgruppe, wollte sie eine nicht-kommerzielle Vergleichsstudie zwischen den verschiedenen, bereits zugelassenen, Immuntherapeutika durchführen, unabsehbare Kosten und eine aufwendige Organisation zu, weil sich Anforderungen zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Arzneimittelstudien nicht grundsätzlich unterscheiden. Selbst die Finanzierung klinischer Studien für Medikamente, die schon für die Behandlung zugelassen sind und normalerweise von den Krankenkassen bezahlt würden, ist vom Gesetzgeber nicht eindeutig geregelt. Das schreckt natürlich ab. Zudem ist es einfach lästig, sich selbst um den ganzen Schriftkram und die Einwerbung von Finanzmitteln kümmern zu müssen. Wie viel befriedigender ist es dagegen, mit Grundlagenforschung zu habilitieren oder mit den kommerziellen Arzneimittelstudien der pharmazeutischen Hersteller gutes Geld einzunehmen. Es kommt der Wahrheit vermutlich nahe anzunehmen, dass MS-Expert:innen sich vielfach ganz gut mit den Forschungsmängeln arrangiert haben. Therapiekonzepte werden bei fehlender Evidenz dann halt kurzerhand im Expertenkonsens erstellt. Die aktuelle S2k-MS-Leitlinie[6] hebt sich immerhin u.a. dadurch positiv von den meisten Expertenstatements der Szene ab, dass sie das Fehlen der Evidenz klar benennt. Im Gegensatz dazu hört man von anderer Seite eigentlich nur, wie toll doch alles sei.[7]
„Forschungslücken nach der Zulassung lassen Betroffene und Behandelnde im Ungewissen“, so bringt es Dr. Kaiser in der IQWIG-Pressemitteilung auf den Punkt.
Die universitären MS-Forscher unternehmen, soweit wir es überblicken, nicht einmal mehr den Versuch, nicht-kommerzielle, von der Industrie unabhängige, klinische Forschungsstrukturen zu etablieren, wie es sie für andere schwere Erkrankungen durchaus gibt.[8] Stattdessen favorisieren sie weniger gute Alternativen, die nicht den wissenschaftlichen Standard der „Guten klinischen Praxis“[9] erfüllen. Als aus unserer Sicht abschreckendes Beispiel kann das MSBase-Register dienen.[10] Neurologische Zentren weltweit mit völlig verschiedenen, nicht vergleichbaren Therapiemöglichkeiten können sich zur Teilnahme registrieren und Daten ihrer Patient:innen übermitteln. Weder sind die Daten repräsentativ, noch vollständig, noch unterliegen sie einer echten Qualitätskontrolle. Letztlich sind laut Website derzeit Datensätze von rund 89.000 Patient:innen aus 42 Ländern, die nicht nach einem vorher festgelegten Studienplan behandelt wurden, ohne nachvollziehbare Auswahlkriterien im Register erfasst, und werden retrospektiv für einzelne Fragestellungen ausgewertet. Das MSBase-Register geht auf ein früheres Register der Firma Serono zurück. Geführt wird es von einer „MSBase Foundation“, und die Website legt keine Rechenschaft über die Finanzierung ab. Mit Hilfe solcher verfälschend als „Real world data“ bezeichneten Daten umgehen die MS-Experten weltweit ihre medizinethische Verpflichtung, gute klinische Studien auf den Weg zu bringen. Auch wenn die Rahmenbedingungen für eine gute universitäre klinische Forschung zur MS aktuell schwierig sind, wäre es an genau diesen Expert:innen, sich entsprechend politisch für bessere Forschungsbedingungen einzusetzen. Stattdessen wird das dünnste Brett gebohrt. Publikationen basierend auf Daten des MSBase-Registers sind zahlreich, oft zitiert, aber wissenschaftlich wertlos und therapeutisch irreführend. Folgerichtig werden diese schlechten Daten vom IQWIG auch nicht akzeptiert.
Und so kommt es, dass man Stand 2023 nicht genau sagen kann, welches MS-Medikament in welcher Reihenfolge bei welcher MS-Verlaufsform welchen Nutzen bringt, wann man mit einer Immuntherapie beginnt, wann man sie mal pausiert, und wann man sie ganz absetzen kann, geschweige denn, welche Langzeitfolgen zu erwarten sind. Damit können wir nicht zufrieden sein, denn wir als Betroffene unterscheiden uns von der Fachwelt in einem ganz wesentlichen Punkt: Wir sind diejenigen, die persönlich unter der fehlenden Evidenz zu leiden haben. Hoffentlich wird die ernüchternde IQWIG-Bewertung zu einem Weckruf für die MS-Neurologenszene und für die Gesundheitspolitik gleichermaßen.
Jutta Scheiderbauer
[1] Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht den Nutzen und den Schaden von medizinischen Maßnahmen für Patientinnen und Patienten.
[2] IQWIG Pressemitteilungen: „Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich“, in https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_91587.html [08.06.2023].
[3] Alemtuzumab, Cladrin, Natalizumab und Fingolimod sind ausschließlich für die hochaktive Verlaufsformen zugelassen. Dimethylfumarat, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid sind für aktive Verlaufsformen zugelassen, was hochaktive Verlaufsformen einschließt
[4] IQWIG: „Alemtuzumab, Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid zur Behandlung Erwachsener mit hochaktiver schubförmig remittierender multipler Sklerose“, in https://www.iqwig.de/download/a20-60_multiple-sklerose_vorbericht_v1-0.pdf [08.06.2023]. Der Vorbericht wird in einem Stellungnahmeverfahren von der Fachöffentlichkeit kommentiert und anschließend ggf. noch modifiziert.
[5] RCTs = randomized controlled trials (Deutsch: randomisierte kontrollierte Studien)
[6] Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 08.06.2023).
[7] Wiendl, H., Gold, R., Berger, T. et al. Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG): Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021 (White Paper). Nervenarzt 92, 773–801 (2021). https://doi.org/10.1007/s00115-021-01157-2
[8] Z.B. Deutsche Kinderkrebsstiftung: „HIT-Netzwerk“, in: https://www.kinderkrebsstiftung.de/forschung/hit-netzwerk/ [08.06.2023].
[9] Wikipedia: „Gute klinische Praxis“, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Gute_klinische_Praxis [08.06.2023].
[10] MSBase: „Neuro-ImmunologyRegistry“, in: https://msbase.org [08.06.2023].