Ein Autorenteam hat randomisierte klinische Studien über Wirkstoffe zur Behandlung von Multipler Sklerose vor und nach deren Zulassung bis zum Juli 2017 überprüft – mit alarmierenden Einsichten.
(Dieser Artikel erschien erstmalig in der KVH aktuell Pharmakotherapie 4/2019 und wird hier mit Genehmigung erneut veröffentlicht.)
Seit der Marktzulassung von Interferon Beta und Glatiramer wurden acht Wirkstoffe auf dem europäischen Markt zur Therapie von Multipler Sklerose zugelassen. Die Zulassung dieser Substanzen erfolgte auf der Grundlage von 16 klinischen Studien mit insgesamt rund 16.000 Patienten. Elf dieser Studien (das heißt mehr als zwei Drittel) verglichen den neuen Wirkstoff nur mit Placebo, während die anderen Studien ihn mit Interferon Beta verglichen (die Standardbehandlung in Ermangelung einer besseren Alternative). Der primäre Endpunkt in diesen elf Studien war die mittlere jährliche Rückfallquote. Die einzigen Studien, die die Progression der Behinderung als primären Endpunkt wählten, waren die Studien zu Alemtuzumab (Lemtrada), wobei sie keinen Nachweis seiner Wirksamkeit erbringen konnten. Mit anderen Worten: Zum Zeitpunkt ihrer Markteinführung waren die meisten dieser Wirkstoffe nicht mit der Standardbehandlung verglichen worden. Ihre Wirkung auf die Krankheitsprogression im Langzeitverlauf wurde ebenfalls nicht geprüft. Dieselben Autoren analysierten die 52 randomisierten klinischen Studien, die nach der Marktzulassung der acht Wirkstoffe durchgeführt wurden. Davon untersuchten 21 Studien Fampridin. Lediglich 24 der 52 Studien wurden zu Ende geführt und ihre Ergebnisse veröffentlicht. Zwei Drittel (34) der Untersuchungen verglichen das Medikament mit Placebo und nur 17 Prozent (neun Studien) mit Interferon oder Glatiramer. Nur eine der Studien, deren Endergebnisse veröffentlicht wurden, verglich zwei Wirkstoffe im Kopf-an-Kopf- Vergleich: Natalizumab gegen Fingolimod. Nur eine Studie (zu Fingolimod) überprüfte den Krankheitsprogress als Endpunkt, jedoch ohne Wirkungsnachweis. In einer Situation, in der keine direkten Wirk- vergleiche zwischen Medikamenten vorliegen, sind wir unfähig zu sagen, welche Stoffe die erste Wahl sind. So wurde auch die Chance vertan, Studien nach Marktzulassung aufzulegen, um bessere Einsicht in die Effekte auf die Krankheitsprogression zu gewinnen.
Die Autoren dieser Arbeit[1]Prescrire International, April 2019, Volume 28, No. 203, P87. riefen die öffentlichen Gesundheitsbehörden dazu auf, Untersuchungen zu finanzieren, die die wichtigsten Fragen für Patienten und Behandler beantworten können: Welche Medikamente sollten sie wählen, wie groß sind die gewünschten Wirkeffekte und welche Nebenwirkungen sind zu erwarten? Multiple Sklerose ist ein weiteres Beispiel eines Dilemmas, das wir bereits gut aus der Onkologie kennen. Die Substanzen sind so miserabel untersucht, lassen so viele Fragen offen, dass Ärzte sich auf ihre persönliche Erfahrung verlassen müssen. Dabei stehen sie möglicherweise eher unter dem Einfluss sogenannter Key Opinion Leader, als dass sich die Behandler auf überzeugende Daten stützen könnten. Die unzureichende Untersuchung von Medikamenten ist eine Verschwendung von gesellschaftlichen Ressourcen und eine verlorene Chance für Patienten, mit besseren Medikamenten behandelt zu werden.
Fazit
Es ist schon mehr als bedauerlich, dass sich die Behörden immer noch mit solchen unzulänglichen Studien zufriedengeben. Sie akzeptieren sogar, dass Studien mit Ergebnissen, die dem Hersteller nicht genehm sind, einfach nicht veröffentlicht werden und in der Schublade verschwinden. Wissenschaftler rufen schon seit Langem nach aussagekräftigen Studien, die uns helfen, nutzlose, teils gefährliche und oft überteuerte Medikamente als unbrauchbar zu identifizieren. Sie fordern, dass alle – alte wie aktuelle – klinischen Studien veröffentlicht werden.[2]alltrials.net Wer trägt hier die Verantwortung? Es ist eindeutig die Politik, die in der Pflicht steht, den Bedürfnissen der Bevölkerung Rech- nung zu tragen und Pharmaherstellern, aber auch universitärer Forschung entsprechende Auflagen zu machen und Kontrollen zu veranlassen. Statt- dessen müssen wir zuschauen, wie Verantwortliche bei der European Medicines Agency (EMA)[3]gutepillen-schlechtepillen.de, 2/11, P4. [4]Prescrire International, November 2012, Volume 21, No. 132, P278.oder der U.S. Food and Drug Administration (FDA)[5]www.worstpills.org. zwischen Jobs in der Industrie und der EMA hin- und herwechseln beziehungsweise bei der EMA über Medikamente urteilen, die ausgerechnet der frühere Arbeitgeber zur Prüfung vorgelegt hat. Stattdessen zeigt der Staat uns Ärzten seine Macht, indem er uns die Einrichtung von Terminservicestellen vorschreibt sowie Gesetze zur Verhinderung von Korruption in der Medizin installiert (zu Recht). Daneben kuschelt er aber regelmäßig mit der Industrie beim Pharmadialog, der unter Ausschluss der Ärzteschaft stattfindet – zum ausdrücklichen Wohle des Shareholder Value.
Dr. med. Joachim Seffrin