Stellen Sie sich vor, man erzählt Ihnen, am Ende einer langen Reihe von Untersuchungen, dass Sie Multiple Sklerose (MS) haben. Und stellen Sie sich vor, am Ende des Gesprächs herrscht bei Ihnen, neben dem Schock, den eine solche Diagnose in der Regel verursacht, das Gefühl vor, sich allein gelassen zu fühlen, und Sie fühlen sich beschämt, über die eigene Hilflosigkeit und Widerstandslosigkeit. Was ist da passiert? Nun, hier ist im Gespräch bei der Diagnoseübermittlung alles schief gelaufen, was schief laufen konnte. Dabei müsste das nicht so sein, denn es gibt bereits Qualitätsstandards für die Übermittlung einer „schlechten“ Diagnose. Nur umgesetzt werden sie scheinbar nicht.
Sarah Voltmann hat sich mit diesem Thema in ihrer Arbeit „Das Überbringen schlechter Nachrichten: Die Übermittlung der Diagnose Multiple Sklerose aus der Sicht der Betroffenen“ auseinander gesetzt und dafür ausführliche Interviews mit 9 MS-Betroffenen geführt und ausgewertet. Diese Arbeit ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Erstens widmet sich die Autorin einer, bisher im Bereich der MS-Forschung noch überhaupt nicht angewandten, Methode der Narrative, sie lässt Betroffene berichten und wertet diese aus. Zweitens bestätigt sie in ihrer Arbeit, was Betroffene immer wieder in Beratungsstellen berichten oder in Internet-Foren posten: Eine misslungene Diagnoseübermittlung ist ein denkbar schlechter Start in ein Leben mit einer unheilbaren Krankheit wie der MS.
In den Interviews wurden die Befragten gebeten, zu berichten, wie ihre Diagnosemitteilung abgelaufen ist, d.h. in welchem Rahmen und wie der Arzt/ die Ärztin wahrgenommen wurde. Ein weiterer Fragenkomplex drehte sich darum, ob und welche Informationen über die Erkrankung gegeben wurden. Zuletzt drehten sich die Fragen um Planung und Durchführung der Therapie.
Das Ergebnis dieser Befragungen gibt ein trauriges Bild ab. Der Ort der Diagnoseübermittlung ist in der überwiegenden Anzahl nicht ein abgeschlossener Raum, in dem eine vertrauensvolle Atmosphäre gewährleistet ist, sondern z.B. der Flur der Notaufnahme oder ein 3-Bettzimmer im Krankenhaus bei Anwesenheit weiterer Patient*innen. Neben der Tatsache „Sie haben MS“ werden meist keine weiteren Fakten zur Erkrankung geliefert und Betroffene werden nicht als selbstständige Person behandelt. So erfährt eine Betroffene von der Diagnose nur, weil sich zwei Ärzte vor ihrem Bett über sie unterhalten: „Und ich habe da im Bett gelegen und habe gedacht: Hm, warum reden die nicht mit mir. Es geht doch gerade um mich!“
Falls doch Informationen über die Erkrankung geliefert werden, dann ebenfalls in der offenen Tür des Krankenzimmers oder auf dem Flur der Notaufnahme. Die Informationen sind kurz und knapp und dabei oft nicht sachlich, teilweise nicht korrekt und nicht hilfreich. Einem Betroffenen sagte man: „Man solle jetzt nicht das Ende erwarten und auch nicht das Leben direkt umstellen. Da würde man ganz gut mit Leben können.“ Eine andere Betroffene wurde, einen Tag nach der Diagnose, durch den behandelnden Professor bei seinen Studierenden mit den Worten vorgestellt: „Das ist Frau XX, bei der hat’s in der Halswirbelsäule angefangen und die sitzt im halben Jahr im Rollstuhl“. In den meisten Fällen, so das Ergebnis der Interviews, wird ein negativer Verlauf der Erkrankung, bis hin zum unangemessenen Katastrophenszenario durch die Ärzt*innen prognostiziert. Eine ausführliche Aufklärung über die Erkrankung ist hier die Ausnahme. Solche Szenen zeigen wenig bis gar keine Empathie von Seiten der Ärzt*innen. So ist auch fehlendes Einfühlungsvermögen einer der am häufigsten genannten Kritikpunkte, den die Betroffenen in den Interviews nennen.
Auch in Sachen Therapieentscheidung und –planung läuft vieles schief. Vielfach bleibt keine Zeit, die Diagnose zu verarbeiten, stattdessen wird Druck ausgeübt, möglichst rasch mit der Medikation zu beginnen. Die Betroffenen haben häufig bei der Therapieentscheidung kein Mitspracherecht, in diesen Fällen hat der Arzt bereits ein Medikament ausgewählt, ohne Vorerfahrungen abzufragen und ohne Bezug zum Alltag der Betroffenen herzustellen. Die Hilflosigkeit, die Schocksituation und Informationsdefizite werden ausgenutzt, um eine bestimmte Therapie, bzw. ein bestimmtes Medikament einzuleiten. Eine Betroffene schildert das so: „Und da war ich total in Panik, weil ich gedacht habe, oh mein Gott, das sind jetzt noch vier Wochen, die ins Land ziehen! Mir hatte auch keiner erklärt, dass das jetzt nicht schlimm ist, wenn man jetzt ein paar Wochen wartet.“ Auch Angaben zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen des Medikaments wurden in den meisten Fällen nicht gemacht, so berichtet eine nebenwirkungsgeplagte Betroffene: „Das hatte dann zur Folge, dass ich dann wirklich eine ganze Weile immer gedacht habe, das ist die MS, die mir solche Beschwerden macht“.
Die befragten Betroffenen schilderten zumeist Erfahrungen mit dem so genannten „paternalistischen“ Modell, nach welchem Ärzt*innen als Autorität auftreten und stellvertretend für die Patient*innen und anhand von Expert*innenwissen Entscheidungen trifft. Das Problem einer solchen Kommunikation mit all seinen gesundheitlichen Folgen ist in der Medizinsoziologie seit 1970 bekannt. Zu einer gelungenen Kommunikationgehört hingegen neben Privatsphäre, Diskretion, Empathie und Sensibilität auch das so genannte „shared decision making“, kurz SDM, nachdem Ärzt*innen und Patient*innen gemeinsam Entscheidungen zur Behandlung treffen. Beides, sowohl eine gelungene Kommunikation, als auch ein SDM wirken sich positiv aus: so haben Patient*innen weniger Angst, eine höhere Zufriedenheit und positivere Einstellung zur Erkrankung. Umgekehrt sinkt die Lebensqualität chronisch kranker Patient*innen, wenn sie sich im Gespräch mit ihrem Arzt/ ihrer Ärztin nicht gut aufgehoben fühlen. „Eine unzureichende Kommunikation im Arzt-Patienten-Gespräch kann weitreichende Folgen haben und die Lebensqualität der Betroffenen, dessen Krankheitsverarbeitung und somit den weiteren Verlauf der Erkrankung enorm beeinflussen“, so fasst Voltmann den Forschungsstand zusammen.
Sie schildert in ihrer Arbeit auch, warum diese Standards der Kommunikation in vielen Fällen nicht zum Tragen kommen. Zum einen sei vielen Patient*innen gar nicht bewusst, dass überhaupt die Möglichkeit besteht, sich aktiv einzubringen und sich an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen. Dabei besteht nicht erst seit dem Patientenrechtegesetz im Februar 2013 eine Aufklärungspflicht seitens der Ärzt*innen und ist die Einbeziehung des Patient*innen in Entscheidungen vorgesehen. Zum anderen würden Qualitätsstandards für die Übermittlung einer „schlechten“ Diagnose im Medizinstudium nicht flächendeckend vermittelt, denn eine verpflichtende Teilnahme an sogenannten „Communication Skill Trainings“ für Studierende und Fachärzt*innen gibt es in Deutschland nicht. Zurück bleiben also nicht nur teils traumatisierte Patient*innen, sondern eben auch überforderte Ärzt*innen, denen Wissen darum fehlt, wie man mit Angst und Verzweiflung der Patient*innen umgehen soll, und die dies hinter einer professionellen Maske verbergen. Für Voltmann steht fest, dass ein Arzt/eine Ärztin voraussehen können sollte, welche Auswirkungen die Übermittlung der Nachricht auf Patient*innen hat und sie „sollen die Fähigkeit ausbilden, sich in den Patienten hineinzuversetzen und Verständnis für dessen Situation zu entwickeln. Sie sollen lernen, den Patienten mit Respekt und Wertschätzung gegenübertreten und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Die Ergebnisse der Interviews stellen klar heraus, dass diese Fähigkeiten im Praxisalltag nach wie vor ausgesprochen selten zu finden sind und hier auf ärztlicher Seite enorme Defizite bestehen.“
Vielleicht sind die Ergebnisse dieser Interviews ein Zufall. Oder gar ein lokales Problem. An der Uni Bremen wird jedenfalls bereits an einer größeren Studie zu diesem Thema gearbeitet, diesmal mit über 200 Betroffenen aus der ganzen Bundesrepublik.
Nathalie Beßler
Foto: Samuel Ferrara on Unsplash