Ein Leitfaden für Freunde und Angehörige von MS-Betroffenen

Ein Leitfaden für Freunde und Angehörige von MS-Betroffenen

Die Diagnose MS ist oft ein Schock. Aber nicht nur die Betroffenen selbst erleben dieses „Beben“, sondern auch Freund*innen, Lebenspartner*innen und Eltern sind oft emotional involviert.

Neben der Sorge bezüglich des Wohlergehens des Betroffenen tauchen oft eine ganze Menge Unsicherheiten auf. Angehörige fragen sich dann: „Was wird noch passieren, was kann ich tun, was darf ich jetzt, was darf ich nicht mehr, was ist für den andere überhaupt zumutbar?“ Viele Angehörige informieren sich selbst über die Erkrankung, besuchen Vorträge, lesen im Internet nach und kommen, wenn möglich, zu jedem Termin in der neurologischen Praxis mit. Sie wollen Expert*innen sein, um der Person die ihnen nahesteht, besser helfen zu können, aber auch um mit den eigenen Unsicherheiten, dem eigenen Gefühl der Hilflosigkeit, besser umgehen zu können. Informationen können dabei helfen, sie geben Sicherheit und ermöglichen es, sich auf vermeintliche Veränderungen einstellen zu können. Wer krank ist, braucht Hilfe und muss doch alles tun, was notwendig ist, damit es besser und nicht schlechter wird.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint

Die Probleme fangen da an, wo Vorschriften gemacht werden, wenn Angehörige auf einmal Expert*innen sind und vermeintlich besser wissen, was für das Gegenüber gut ist. Oft kommen Eltern oder Lebenspartner*innen zu uns in die Beratung, weil sie das Gefühl haben, dass ihr Angehöriger gerade etwas für sich sehr schlechtes tut, beispielsweise plant, die Medikamente abzusetzen oder „zu viel Fleisch isst“, das sei ja so schädlich bei MS. Hier muss es darum gehen, gute und fachliche Informationen weiterzugeben, so kann man die absoluten Wirksamkeitsparameter von Medikamenten aufzeigen oder das, zum Teil eklatante, Nebenwirkungsrisiko verdeutlichen. Aber es geht noch um etwas anderes: Nämlich darum, dass, egal wie viel Angehörige gelesen haben, egal bei wie vielen Vorträgen sie gewesen sind und unabhängig davon, welche Expert*innen sie konsultiert haben: Wie es den Betroffenen geht und was gut tut, was man sich zutraut und was nicht, das kann nur eine Person beantworten, nämlich der/die Betroffene selbst. MS ist eine Krankheit, die bis heute kaum verstanden ist, daher gibt es aktuell keinen Königsweg der Behandlung, auch wenn viele Ärzte und einige Betroffene in ihren Ratgebern versuchen, dies zu vermitteln.

Ich will nicht drüber reden

Manche Betroffene möchten sich erst einmal gar nicht mit der Erkrankung auseinandersetzen, sie schieben das Thema von sich fort, ignorieren es, tun so als sei nichts geschehen. Gut gemeinte Ratschläge werden hier nicht nur auf taube Ohren stoßen, sondern können auch dafür sorgen, dass der Betroffene fortan den Kontakt meidet. Oft brauchen diese Personen einfach Zeit und das Gefühl, nicht zu etwas gedrängt zu werden. Häufig besteht von Seiten der Angehörigen die Sorge, man würde sich etwas „verbauen“ wenn man nicht direkt mit der Medikation beginnt, es gibt aber keine Studie, die belegt, dass ein schnellstmöglicher Beginn mit einer sogenannten Basistherapie einen dauerhaften Einfluss auf die Behinderungsprogression hat. Andere Betroffene wiederum möchten reden, ihre Ängste loswerden, sie brauchen dann jemanden, der nur zuhört und nicht etwa Ratschläge gibt, egal wie gut sie gemeint sind, diese führen bei dem Betroffenen eher zu einem Gefühl, dass ihre Sorgen nicht ernst genug genommen werden, es keinen Platz für ihr Problem gibt, sondern es bloß verschwinden, also gelöst werden soll. Wieder andere wollen nur in den Arm genommen werden und spüren, dass jemand für sie da ist. Und natürlich gibt es auch die, die alles brauchen, nur eben zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen „Dosen“. Hier sollte man ganz einfach fragen, „Was brauchst du?“, „Was kann ich für dich tun?“. Gesprächsangebote machen, aufmerksam sein und der eigenen Intuition vertrauen. Vor allem sollte man, wenn der/die andere gerade keine Hilfe will oder braucht, dies nicht auf sich beziehen. Wer an diesem Punkt Druck macht, riskiert, dass der Betroffene sich abwendet und auf Distanz geht. Auf der anderen Seite geht es jetzt aber auch darum, für sich festzustellen, was man kann und leisten will, was man sich zutraut, wo man unterstützen kann und wo man passen muss. Denn wer die eigenen Bedürfnisse und Leistungsgrenzen aus den Augen verliert, riskiert nicht nur, auf Dauer die Beziehung zu schädigen, sondern auch am Ende noch sich selbst. So wie es Aufgabe des Betroffenen ist, mitzuteilen, was er möchte und braucht, ist es Aufgabe der Angehörigen, zu kommunizieren, was für sie möglich ist und was eben nicht.

Selbstschutz und Selbstreflektion

Nach meiner Erfahrung aus der Beratung neigen viele Angehörige dazu, sich selbst zu überfordern, indem sie die Ansprüche bezüglich der Fürsorge für den Betroffenen übermenschlich hoch ansetzen. Neben den Unmengen an Energie die sie dafür aufbringen müssen, diese Ziele auch nur ansatzweise zu erreichen, stellt sich auf kurz oder lang das Gefühl ein, es nicht gut genug zu machen, versagt zu haben. Das führt in manchen Fällen zu folgendem Teufelskreis: Der Angehörige übernimmt sich, seine Energiereserven schwinden, Fehler passieren, das Gefühl, es nicht gut genug gemacht zu haben stellt sich ein, das Nervenkostüm wird dünner, irgendwann reagiert man dann ungewollt gereizt, das schlechte Gewissen sorgt dafür, dass man es nicht nur wieder gut machen will, sondern jetzt auf jeden Fall richtig und die eigenen Energiereserven schwinden immer weiter. Oft verhindern also eigene innere Standards, Leistungsgrenzen offen mit dem Betroffenen zu besprechen oder Pausen für sich einzufordern. Es lohnt sich also, die eigenen Ansprüche zu hinterfragen und gut zu prüfen, ob sie mit den eigenen verfügbaren Ressourcen, dazu gehören Zeit, Energie und finanzielle Mittel und mit der persönlichen Lebenswirklichkeit vereinbar sind. Aber kann man  Kranken überhaupt die eigenen Bedürfnisse zumuten? Hier gilt: Nur wer seine eigenen Ängste ehrlich bespricht, hat die Chance, gute Kompromisse zu finden. Viele erleben allein schon das Gespräch als Erleichterung. Und was viele Angehörigen oft nicht beachten, klar kommunizierte Grenzen können den Betroffenen auch emotional entlasten, denn auf der anderen Seite gibt es auch das schlechte Gewissen, die Sorge zur Last zu fallen und durch die eigene Bedürftigkeit den Anderen zu überfordern. Reden rettet nicht alles, aber oft kann es helfen.

Christiane Jung