Bei Ozanimod wurde getrickst und zu kurz untersucht. Aber wer braucht schon Sicherheit?
Wie schon in der letzten ZIMS-Ausgabe berichten wir erneut zu einem frisch zugelassenen MS-Medikament aus der Wirkstoffklasse der S1P-Modulatoren.[1]J. Scheiderbauer: Etikettenschwindel, URL: https://ms-stiftung-trier.de//etikettenschwindel/#more-1460, 04.06.2020 (26.11.2020). Ozanimod (Zeposia®) kam im Mai 2020 zur Behandlung der aktiven, schubförmig-remittierenden MS (RRMS) auf den europäischen Markt[2]European Medicines Agency: Zeposia (Ozanimod), Übersicht über Zeposia und warum es in der EU zugelassen ist, URL: … Weiterlesen, derzeit läuft das Nutzenbewertungsverfahren in Deutschland, [3]Gemeinsamer Bundesausschuss: Nutzenbewertung von Arzneimitteln gemäß § 35a SGB V, URL: https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/ (26.11.2020). Ozanimod ist das erste MS-Medikament der bisher weniger bekannten pharmazeutischen Firma Celgene, die aber Anfang des Jahres vom US-amerikanischen Pharmakonzern Bristol-Myers Squibb geschluckt worden ist, woraufhin dessen Aktie gleich einen Sprung nach oben machte.[4]finanzen.Net: Bristol-Myers Squibb kauft Celgene für zweistelligen Milliardenbetrag – Aktien reagieren massiv, URL: … Weiterlesen
Wirkmechanismus und Nebenwirkungsspektrum dieser Substanzklasse sind eigentlich schon gut bekannt, weil mit Fingolimod (Gilenya®), dem ersten Präparat aus dieser Reihe, bereits seit 2011 behandelt wird, und noch immer kommt es hier zu bösen Überraschungen. Gerade erst erschien ein Rote-Hand-Brief wegen des Auftretens von Leberversagen[5]J. Scheiderbauer: Mit dem Immunsystem spielt man nicht!, URL: https://ms-stiftung-trier.de//mit-dem-immunsystem-spielt-man-nicht/#more-1596, 18.11.2020 (26.11.2020)., und schon kurz danach hörten wir auch noch von einem Fall von Meningoencephalitis (Hirn- und Hirnhautentzündung) nach Windpockeninfektion.[6]Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft: Drug Safety Mail 2020-64, URL: https://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/DSM/Archiv/2020-64.html, 13.11.2020 (26.11.2020). Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) führt im so genannten „Summary of the risk management plan“ zu Ozanimod alle potentiellen Risiken auf, die schon für Fingolimod gelten.[7]European Medicines Agency: PART VI: SUMMARY OF THE RISK MANAGEMENT PLAN, URL: https://www.ema.europa.eu/en/documents/rmp-summary/zeposia-epar-risk-management-plan-summary_en.pdf (26.11.2020).
Die Wirksamkeit von Ozanimod entspricht der von Fingolimod. Gegenüber Beta-Interferon-1a ist eine bessere Schubratenreduktion nachweisbar, aber kein Unterschied in der Behinderungsprogression. Zwei Studien mit fast identischem Studienaufbau waren parallel durchgeführt worden, RADIANCE, Studiendauer zwei Jahre, und SUNBEAM, Studiendauer nur ein Jahr.[8]J.A. Cohen et al.: „Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (RADIANCE): a multicentre, randomised, 24-month, phase 3 trial“, The Lancet … Weiterlesen Fingolimod ist bisher wegen seines Nebenwirkungsspektrums lediglich zur Behandlung der hochaktiven RRMS zugelassen, weswegen sich der therapeutische Einsatz auf Betroffene mit einem geschätzten höheren Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf beschränkt. Im Regelfall muss mindestens eine Immuntherapie vorangegangen sein, trotz derer es dann noch zu entzündlicher Krankheitsaktivität gekommen ist. Ozanimod dagegen darf man laut Zulassung ohne Einschränkung bei allen Betroffenen mit aktiver MS einsetzen, also auch als erste Therapie nach der Diagnosestellung. Wie kann das sein?
Celgene hat erreicht, dass die EMA die Daten aus den beiden Studien zusammen als ausreichend erachtete, obwohl nur die Ein-Jahres-Daten bei allen Patienten vorlagen, während in ihren eigenen Richtlinien eine Studiendauer von ungefähr drei Jahren gefordert wird.[9]European Medicines Agency: Guideline on clinical investigation of medicinal products for the treatment of Multiple Sclerosis, URL: … Weiterlesen Die EMA lässt sich bei Zulassungsentscheidungen von Sachverständigen beraten, aber der Prozess wird nicht transparent gemacht, und wir wissen nicht, wie diese Entscheidung letztendlich zustande kam. Bei Ozanimod konnte, ähnlich wie bei Siponimod, durch eine Phase des langsamen Eindosierens die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauf-Nebenwirkungen zu Therapiebeginn erheblich reduziert werden, zumal alle Patient*innen mit Vorerkrankungen auf diesem Gebiet ohnehin von der Studienteilnahme ausgeschlossen worden waren. Dagegen kamen die typischen Verträglichkeitsprobleme in der Vergleichsgruppe der Interferone, die grippalen Nebenwirkungen, voll zum Tragen, so dass Ozanimod in diesem Punkt sehr viel besser abgeschnitten hat. Alle anderen, schweren Nebenwirkungsrisiken, die aufgrund des Wirkmechanismus und der Immunsuppression höchstwahrscheinlich auftreten werden, tun das erst nach mehreren Jahren. Mit diesem Trick hat der pharmazeutische Unternehmer jetzt nur dem Anschein nach gezeigt, dass Ozanimod gleichzeitig wirkungsvoller, besser verträglich und risikoärmer sei als die Interferone, und kam damit bei der EMA durch.
Ein international angesehener MS-Experte hält ein Plädoyer gegen zu großes Streben nach Sicherheit in der Versorgung von MS-Betroffenen.
In der jüngst erfolgten mündlichen Anhörung von Sachverständigen zu diesem Thema im Rahmen des Nutzenbewertungsverfahrens zu Ozanimod gingen die Meinungen auseinander. Während teils sehr eindeutig auf die Unwägbarkeit der Risiken hingewiesen und der breite Einsatz von Ozanimod bei Niedrig-Risiko-Patienten kritisch gesehen wurde, hielt Herr Prof. Wiendl, ein international angesehener MS-Experte, ein Plädoyer gegen zu großes Streben nach Sicherheit in der Versorgung von MS-Betroffenen: „Wenn es so wäre, dass Sicherheit immer der absolut dominierende Argumentationsfaktor wäre, dann würden wir uns wahrscheinlich nie mehr außerhalb der Interferone bewegen, weil die die einzige Substanzklasse sind, die nach 20 Jahren fast keine Sicherheitsbedenken generiert haben.“[10]Gemeinsamer Bundesausschuss: Mündliche Anhörung gemäß § 35 a Abs. 3 Satz 2 SGB V, hier: Wirkstoff Ozanimod (D-567), URL: … Weiterlesen In der kommenden MS-Leitlinie werden die Immuntherapeutika nach der relativen Schubratenreduktion in drei Kategorien eingeteilt, wodurch Ozanimod wie auch Fingolimod in die Kategorie 2 eingeordnet werden wird. Dies bedeutet, dass gemäß Leitlinie damit nur in klinisch begründeten Fällen direkt nach Diagnosestellung mit Ozanimod begonnen werden und keine Bevorzugung von Ozanimod gegenüber Fingolimod stattfinden soll.
Was bedeutet das für Betroffene, denen Ozanimod jetzt angeboten wird? Gehört man zu den Betroffenen, die unter einer anderen Immuntherapie noch Schübe haben, darunter leiden und einen Therapiewechsel wünschen, dann ist das Angebot in Ordnung, und man sollte sich bei der Auswahl der Substanz nach einer ausgewogenen Aufklärung frei entscheiden. Steht man jedoch ganz am Anfang seiner MS und seiner Entscheidung für oder gegen Immuntherapien, dann muss man derzeit davon ausgehen, dass genau die gleichen Voraussetzungen wie bei Fingolimod erfüllt sein müssen, damit das höhere therapeutische Risiko gerechtfertigt ist – nämlich dass es echte klinische Hinweise auf einen schwereren Verlauf geben muss, wie, zum Beispiel. einen oder mehrere starke Schübe, die sich schlecht zurückgebildet haben. Auch wenn in den superkurzen Zulassungsstudien keine schweren Therapiefolgen vorgekommen sind, so sind sie definitiv nicht ausgeschlossen.
Lassen Sie sich nicht veräppeln!
Jutta Scheiderbauer
Foto: James Coleman/ Unsplash
Quellen
↑1 | J. Scheiderbauer: Etikettenschwindel, URL: https://ms-stiftung-trier.de//etikettenschwindel/#more-1460, 04.06.2020 (26.11.2020). |
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↑2 | European Medicines Agency: Zeposia (Ozanimod), Übersicht über Zeposia und warum es in der EU zugelassen ist, URL: https://www.ema.europa.eu/en/documents/overview/zeposia-epar-medicine-overview_de.pdf (26.11.2020). |
↑3 | Gemeinsamer Bundesausschuss: Nutzenbewertung von Arzneimitteln gemäß § 35a SGB V, URL: https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/ (26.11.2020). |
↑4 | finanzen.Net: Bristol-Myers Squibb kauft Celgene für zweistelligen Milliardenbetrag – Aktien reagieren massiv, URL: https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/us-pharma-megadeal-bristol-myers-squibb-kauft-celgene-fuer-zweistelligen-milliardenbetrag-aktien-reagieren-massiv-6986415, 03.01.2019 [26.11.2020]. |
↑5 | J. Scheiderbauer: Mit dem Immunsystem spielt man nicht!, URL: https://ms-stiftung-trier.de//mit-dem-immunsystem-spielt-man-nicht/#more-1596, 18.11.2020 (26.11.2020). |
↑6 | Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft: Drug Safety Mail 2020-64, URL: https://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/DSM/Archiv/2020-64.html, 13.11.2020 (26.11.2020). |
↑7 | European Medicines Agency: PART VI: SUMMARY OF THE RISK MANAGEMENT PLAN, URL: https://www.ema.europa.eu/en/documents/rmp-summary/zeposia-epar-risk-management-plan-summary_en.pdf (26.11.2020). |
↑8 | J.A. Cohen et al.: „Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (RADIANCE): a multicentre, randomised, 24-month, phase 3 trial“, The Lancet Neurology, 2019; 18 (11), S. 1021–33; J. Comi et al.: „Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (SUNBEAM): a multicentre, randomised, minimum 12-month, phase 3 trial“, in: Lancet Neurol., 2019; 18 (11), S. 1009–20. |
↑9 | European Medicines Agency: Guideline on clinical investigation of medicinal products for the treatment of Multiple Sclerosis, URL: https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/guideline-clinical-investigation-medicinal-products-treatment-multiple-sclerosis_en-0.pdf, 26.03.2015 (26.11.2020). |
↑10 | Gemeinsamer Bundesausschuss: Mündliche Anhörung gemäß § 35 a Abs. 3 Satz 2 SGB V, hier: Wirkstoff Ozanimod (D-567), URL: https://www.g-ba.de/downloads/91-1031-566/2020-11-23_Wortprtokoll_Ozanimod_D-567.pdf 23.11.2020 (26.11.2020). |