Die medikamentöse MS-Therapie verlangt Betroffenen und Ärzt*innen ab, trotz zahlreicher Unsicherheiten eingreifende medizinische Entscheidungen zu treffen.
Während Ärzt*innen schon durch ihr Studium mit Medikamentenforschung in Berührung kommen, ist es für Betroffene ungleich schwerer, Studienmethodik und Forschungsergebnisse zu verstehen. Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über Methoden und Fragestellungen in der Medikamentenforschung geboten werden. Betroffene sollen aber auch erfahren, dass sie bereits mit den richtigen Fragen an ihre Ärzt*innen eine bessere Therapieentscheidung bewirken können.
Welches sind die untersuchten Medikamente?
Der in den vergangenen zwei Jahrzehnten erzielte Behandlungsfortschritt in der MS-Therapie betrifft vor allem die Immuntherapie bei schubförmiger MS. Sie bewirkteine Reduzierung der Schubaktivität im Durchschnitt der behandelten Patient*innen. Noch kann niemand für den Einzelfall vorhersagen, wer auf das gewählte Präparat ansprechen wird und ob dadurch langfristig eine Behinderung verhindert wird.
Vergleichsweise bescheiden wird an der effektiven Bekämpfung MS-bedingter Symptome geforscht, wo die eigentlichen Probleme stärker Betroffener liegen.
Zu bedenken sind mögliche Nebenwirkungen. Immuntherapeutika verbessern keine bereits bestehende MS-Symptomatik und können belastende Nebenwirkungen haben. Auch aus ärztlicher Sicht eher harmlose Nebenwirkungen wie „Gliederschmerzen“, “Müdigkeit” oder “Kopfschmerzen” sind quälend, wenn sie jahrelang auftreten, und vermindern die Belastbarkeit mancher Betroffenen zusätzlich zur Multiplen Sklerose.
Um in diesem Umfeld überhaupt eine Therapieentscheidung treffen zu können, sollte man verstehen, wie man aus den angebotenen wissenschaftlichen Informationen herauslesen kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit Nutzen und Nebenwirkungen im eigenen, speziellen Fall auftreten können.
Der Unterschied zwischen Wirkung und Nutzen
Pharmazeutische Hersteller müssen mehrere erfolgreiche Studien vorweisen, um für ein Medikament eine Zulassung zu bekommen. Die Wirksamkeit wird mittels eines möglichst aussagekräftigen Messwertes nachgewiesen, für den Fall der schubförmigen MS ist das meist die jährliche Schubrate. Obwohl MS eine lebenslange Erkrankung ist, sind heutige Studien gewöhnlich nur auf zwei Jahre angelegt. Die Auswahl der Studienpatient*innen wird auf eine bestimmte Gruppe beschränkt: meist Betroffene mit schubförmigem Verlauf im Alter zwischen 18 und 55 Jahren mit noch erhaltener Gehfähigkeit.
Diese Vorgehensweise ist pragmatisch, sie bringt neue Medikamente zügig auf den Markt, hat aber zwei gravierende Konsequenzen: Zum einen müssen im Alltag Studienergebnisse auch auf jene Patient*innen übertragen werden, für die sie streng genommen nicht gelten. Zum anderen gibt es immer auch Patient*innen, für die die nachgewiesene Wirksamkeit aufgrund individueller Gegebenheiten gar nicht relevant ist, d.h. wenn ein Medikament gute Studienergebnisse erzielt hat, muss es deshalb nicht allen Betroffenen nutzen.
Vor allem für Erkrankte mit hoher Schubaktivität ist die immuntherapeutische Schubprophylaxe sinnvoll. Für Betroffene mit sehr niedriger natürlicher Schubrate könnte eine medikamentöse Schubprophylaxe womöglich keine echte Verbesserung sein.
Nebenwirkungen
Arzneimittelbehörden beurteilen ein Medikament als sicher, wenn es keine schweren, lebensbedrohlichen oder tödlichen Nebenwirkungen verursacht. Leichte oder mäßige Nebenwirkungen dagegen gelten als akzeptabel. Wenn in einer großen Gruppe von Patient*nnen im Durchschnitt der Therapienutzen die Therapienebenwirkungen übersteigt, wird das Medikament zugelassen.
Im individuellen Behandlungsfall kann das Verhältnis zwischen Nutzen und Nebenwirkungen jedoch erheblich vom Durchschnitt abweichen. Wünschenswert ist der Fall, dass Patient*innen von einem guten Ansprechen profitieren, ohne relevante Nebenwirkungen zu erleben. Das genaue Gegenteil kann jedoch ebenfalls erreicht werden: Schlechtes Ansprechen und schlechte Verträglichkeit.
Anwendung von Studiendaten auf den individuellen Fall
Ärzt*innen, die MS-Patient*innen über Therapieoptionen aufklären, kennen die durchschnittliche Wirksamkeit verschiedener Medikamente aus den Zulassungsstudien. Sie geben Informationen an Patient*innen weiter, die den Unterschied zwischen Gruppen (mit Studienmedikament oder mit Placebo) relativ zueinander ausdrücken: die sog. „Relative Risikoreduktion“. Für die Interferon-beta-Präparate z.B. traten in der behandelten Gruppe insgesamt 30 % weniger Schübe auf als in der Placebogruppe. Leider sagt diese Zahl nichts darüber aus, wie hoch die Wahrscheinlichkeit jedes Einzelnen ist, aufgrund der Therapie schubfrei zu bleiben.
Für diese Information muss der Therapieeffekt in absoluten Zahlen ausgedrückt werden, als sog. „Absolute Risikoreduktion“. 1. Wie viele Patient*innen bleiben auch ohne Therapie schubfrei? 2. Wie viele Patient*innen erleben trotz Therapie Schübe? Aus der Differenz zwischen der Anzahl von schubfreien Patient*innen mit und ohne Behandlung ergibt sich die Wahrscheinlichkeit für den Einzelfall, aufgrund des Medikamentes schubfrei zu bleiben. Sie liegt gewöhnlich, wie bei den Interferonen mit 14%, deutlich unter der „Relativen Risikoreduktion“.
Nicht nur Kenntnisse der Studienmethodik, auch das Ausmaß des Nicht-Wissens ist für Therapieentscheidungen wichtig.
Auch wenn in der jüngeren Vergangenheit mehr und mehr Medikamente zur Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen wurden, führt die bloße Verfügbarkeit von neuen Medikamenten noch nicht automatisch zu einem therapeutischen Nutzen für Betroffene. Erst weitere Studien nach der Zulassung, die verschiedene Therapiekonzepte testen und Direktvergleiche zwischen den Medikamenten anstellen, würden über die optimale Anwendung neuer Therapien Aufschluss geben. Sie sind kommerziell aber uninteressant, wenn nicht sogar nachteilig, für die pharmazeutischen Unternehmen und müssen deshalb von akademischen Forschungseinrichtungen, also den neurologischen Universitätskliniken, angegangen werden. Leider steht diese Therapieoptimierung bei der Multiplen Sklerose noch ganz am Anfang und viele Fragestellungen sind unbeantwortet:
- Wie kann man leichte von schweren Verlaufsformen zu Beginn unterscheiden, damit leicht Betroffenen Therapien erspart bleiben und schwer Betroffene sofort intensiver behandelt werden können?
- Welche Therapieoption ist für welche Krankheitsphase optimal?
- Wie kann man degenerative Nervenschäden durch MS, die zusätzlich zu den entzündlichen Prozessen auftreten und ausschlaggebend für die bleibende Behinderung sind, effektiv behandeln?
- Wie wirken sich Therapienebenwirkungen langfristig aus, welche Spätfolgen hat der dauerhafte Eingriff ins Immunsystem?
- Welchen Stellenwert haben nicht-medikamentöse Therapieverfahren in einem umfassenden Behandlungskonzept?
Ärzt*innen sind nach wie vor die wichtigste Informationsquelle.
Gerade in Situationen, die medizinische Entscheidungen erforderlich machen, sind Betroffene mit derart gründlichen Recherchen überfordert, vor allem zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. Sie können aber durch folgende Fragen dabei helfen, dass im Gespräch die für sie relevanten Informationen übermittelt werden:
- Welche Behandlungsoptionen habe ich in meiner individuellen Situation, inklusive der Möglichkeit, keine Therapie durchführen zu lassen?
- Was sind die jeweiligen Vorteile und Nebenwirkungen/Risiken jeder Behandlungsoption?
- Wie wahrscheinlich ist das Eintreffen dieser Vorteile und Nebenwirkungen/Risiken in meinem speziellen Fall?
Jutta Scheiderbauer