Lemtrada

Lemtrada® ist der Name, unter dem der monoklonale Antikörper Alemtuzumab vor nicht allzu lange Zeit für Multiple Sklerose in den Handel kam. Alemtuzumab greift sehr intensiv in das Immunsystem ein, greift B- und T-Zellen an, die zunächst fast vollständig absterben, um danach neu gebildet zu werden. Dabei ist es keine Neuentwicklung, Alemtuzumab wurde unter dem Handelsnamen MabCampath® seit Jahren zur Therapie der Chronisch Lymphatischen Leukämie (CLL) eingesetzt, eben bis man herausfand, dass die Substanz bei MS Schübe verhindern konnte.

Normalerweise ist das ein Grund zur Freude. Der Hersteller führt ergänzend Zulassungsstudien zur MS durch. Sollten diese erfolgreich verlaufen, beantragt er eine Indikationserweiterung bei der Arzneimittelbehörde, und relativ schnell steht das Medikament nicht nur für CLL-Patienten, sondern auch für MS-Kranke zur Verfügung. In diesem Fall aber lief das anders. Der Hersteller nutzte seinen legalen Spielraum aus und tat etwas, womit keiner gerechnet hatte. Er nahm MabCampath® für CLL-Patient*innen komplett vom Markt und beantragte eine vollständig neue Zulassung für MS, und jetzt hieß das Mittel Lemtrada®. Gleichzeitig erhöhte er den Preis um das 40-fache. Trotz zahlreicher Proteste aus der Onkologie kam er damit tatsächlich durch, heute ist MabCampath® nur noch aus dem Ausland mittels eines sehr umständlichen Verfahrens individuell für einzelne CLL-Patient*innen zu beziehen, und Lemtrada® ist ein extrem hochpreisiges Medikament geworden, das Neurolog*innen zur Behandlung hochaktiver MS-Verläufe einsetzen dürfen.

So ethisch fragwürdig dieses Vorgehen war, darf man darüber nicht vergessen, auch den Nutzen dieses Medikamentes kritisch zu betrachten. Es gab zwei große Zulassungsstudien zu Lemtrada, MS CARE I und MS CARE II. MS CARE I testete vorher unbehandelte Patient*innen im Vergleich zu Rebif®, MS CARE II testete all jene deren Vortherapie (also meist auch ein Interferon) versagt hatte, ebenfalls gegen Rebif®. Liest man ohne weitere Informationen nur die Veröffentlichungen der CARE I und II Studien, bekommt man einen sehr positiven Eindruck von dem Präparat. Aber leider sind die Informationen dort unvollständig.

Als erste Arzneimittelbehörde hat die EMA, die europäische Arzneimittelbehörde, Lemtrada® in Europa zu gelassen, sogar zur Frühtherapie. Die FDA, die amerikanische Arzneimittelbehörde, hat sich da sehr viel schwerer getan, nachdem Fachleute im Auftrag der FDA einen über 300 Seiten starken Bericht abgeliefert hatten, der gravierende Mängel im Studienaufbau fand und auch deutlich stärkere Hinweise auf Therapiefolgen, als sie in den beiden Veröffentlichungen beschrieben wurden.

Jetzt ist es völlig korrekt zu argumentieren, dass größere Risiken für Betroffene mit schwerer klinischer MS-Verlaufsform zu tragen sind, wenn der Nutzen dies rechtfertigt. Allerdings fanden die Fachleute der FDA gerade heraus, dass im Studienaufbau so große Schwächen lagen, dass mit den vorliegenden Daten es gar nicht möglich war, einen überlegenen Nutzen nachzuweisen.

Um das zu verdeutlichen, möchte ich exemplarisch auf die gewählte Vergleichsgruppe eingehen, die mit Rebif® behandelt wurde. Für vorher Unbehandelte ist das ein adäquater Vergleich. Aber Patient*innen, die unter einem Interferonpräparat schon vorher keinen Nutzen hatten, werden diesen voraussichtlich auch nicht in der MS CARE II-Studie haben, wenn sie erneut mit der gleichen Substanzgruppe weiter behandelt werden. Es ist ein alter Trick, die Vergleichsgruppe ungenügend zu therapieren, wenn man wünscht, dass das Studienpräparat besonders gut abschneidet. Fair wäre ein Vergleich mit einer Substanz gewesen, die zur Therapie von hochaktiven Verläufen eingesetzt wird, also z.B. Tysabri®.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Studien nicht verblindet waren, die Patient*innen und die Ärzt*inne also wussten, was wer bekam, und eine große Erwartungshaltung an das neue Präparat bestand, während Patient*innen, die Rebif® bekamen, voraussichtlich eher enttäuscht waren und eine negative Erwartungshaltung hatten. So etwas kann die klinische Symptomatik der MS und damit das Studienergebnis schon beeinflussen.

Die EMA und mittlerweile auch die FDA haben in Kenntnis aller Daten das Mittel offenbar zugelassen, damit eine potentiell wirkungsvolle Substanz MS-Betroffenen nicht gänzlich vorenthalten wird, obwohl die angenommen große Wirksamkeit nicht solide belegt ist. Das ist für Neurologen eine Verpflichtung, eigene Studien zur Indikationsstellung, zum Nutzen und zum Nebenwirkungsspektrum von Lemtrada® durchzuführen.  Künftige Lemtrada®-Patienten sollten alle erstmal wissenschaftlich begleitet werden, und zwar ohne Einflussnahme des Herstellers.

Jutta Scheiderbauer

Foto von Arek Socha bei Pixabay