Ganz, ganz viel machen

Sigi Arnade blickt im Interview zurück auf ein langes Berufsleben und viele Erfolge ihres politischen Engagements

Nathalie Beßler: Du hattest Tiermedizin studiert und als Tierärztin gearbeitet, als du mit 26 die Diagnose MS bekommen hast. Das war ja auch Grund, sich beruflich neu zu orientieren. Das hatte auch damit zu tun, dass du nicht froh warst mit dem Job, nicht nur, weil du wegen der MS schon wackelig auf den Beinen warst.
Dass du dann als Journalistin und in der Verbandsarbeit so viel erreicht hast, hat mich dann doch zu der Frage gebracht, ob dem Bereich Tiermedizin vielleicht auch so viel Engagement und Druck gutgetan hätte. Wäre das vielleicht auch eine Option gewesen, sich da einzubringen und zu engagieren?
Sigi Arnade: Also ich habe da schon auch viele Missstände wahrgenommen, in der ganzen Tierhaltung, in der ganzen Landwirtschaft und eben in der Tierzucht, so wie sie geführt wird. Wie da bei den Tieren die Gesundheit auf der Strecke bleibt. Die Schweine, die immer mehr Ferkel säugen müssen und immer mehr Koteletts liefern müssen. Da hätte man ganz, ganz viel machen müssen, für das Tierwohl und die Fleischqualität zum Beispiel. Aber damals habe ich mich da ziemlich hilflos gefühlt. Ich habe gesehen, dass es viel zu tun gäbe, aber sah keinen Hebel, wo ich hätte ansetzen können. Wenn ich weiter in dem Bereich tätig gewesen wäre, wäre da vielleicht auch noch was draus geworden.

Beruflich hast du dich dann dem Journalismus zugewandt und hast die Mitgliederzeitschrift der DMSG redaktionell betreut. Ich finde das spannend, da auch ich mich nach Diagnose bei der DMSG engagiert und dann später frustriert hingeschmissen habe. Erzählʼ doch kurz, was aus dir und der DMSG geworden ist. Inwieweit hat sich dein Umgang mit der DMSG verändert?
Ich habe knapp drei Jahre beim Bundesverband der DMSG in München die Mitgliederzeitschrift als Chefredakteurin betreut und die Öffentlichkeitsarbeit gemacht. War dann doch ziemlich frustrierend, dass die Betroffenen quasi nur als Objekte der Fürsorge vorkamen und nicht selbst etwas zu sagen hatten. Dass die ganze Arbeit sehr stark dominiert war vom Ärztlichen Beirat, was ich nicht richtig fand, und weniger von den Anliegen der Betroffenen. Und dann sollte auch noch in mein Konzept für die Zeitschrift eingegriffen werden, damals ging es um Imurek®, und ich bekam viele Zuschriften von Betroffenen, die über Nebenwirkungen und Wirkungslosigkeit schrieben und auf der anderen Seite eben sehr befürwortende Dinge darüber vom Ärztlichen Beirat. Ich wollte das gegeneinanderstellen, damit sich jeder ein Bild davon machen kann. Das wurde mir dann untersagt. Wenn ich das nicht neutral darstellen könne, dann wollte ich es sein lassen. Das habe ich dann getan.
Ich hatte damals einen Abschiedsbrief in der Zeitschrift verfasst, den der damalige Geschäftsführer mir zugestanden hatte. Da hatte ich dann zwei Apelle: Zum einen an die Gesellschaften, an die Landesverbände und den Bundesverband, dass sie mehr Betroffene einbeziehen sollten, auch in ihrer hauptamtlichen Struktur. Und zum anderen an die Betroffenen, dass sie Mitsprache stärker einfordern und ein bisschen aufmüpfiger werden. Und das, hatte ich gedacht, sei im Laufe der Jahrzehnte geschehen.
Als wir dann Ende 2010 hier in Berlin mit anderen MS-Betroffenen den Vorstand vom Landesverband übernommen haben, war das eine relativ revolutionäre Aktion. Damals gab es Korruptionsvorwürfe gegen die damalige Geschäftsführerin, und man wusste nicht, in wieweit der Vorstand was damit zu tun hatte; das war eine sehr große Aufregung und da haben wir die Gelegenheit ergriffen und wollten den Landesverband umgestalten zu einer menschenrechtsorientierten Selbstvertretungsorganisation. Aber damit sind wir gescheitert. Auch weil es ganz viele Gegenkräfte gab, zum Teil auch von anderen Betroffenen. Ich habe anonyme Briefe gekriegt, eine tote Schlange und auch Hundekot im Briefkasten. Man schrieb mir, ich solle doch zu einer Schweizerischen Gesellschaft wegen Selbsttötung gehen. Ich habe Anzeige bei der Polizei erstattet. Es war wirklich unterirdisch. Wir haben die Legislatur noch gemacht und dann haben wir gesagt, das sollen andere machen. Jetzt ist wieder ein Arzt im Vorstand, der das, glaube ich, ganz ok macht. Aber das ist eben nicht das, was wir uns erhofft hatten. Und ich weiß nicht, ob die MS Betroffenen noch nicht so weit sind oder woran es liegt.

Und als Vertretungsorganisation für dich als MS Betroffene – bist du zufrieden mit dem, was die DMSG macht?
Nein, einfach nein. Ich finde, sie sind viel zu medizinisch und pharmaorientiert. Leider gibt es eben nicht die Wunderpille, die die MS heilt. Und es gibt jetzt ja eine große Auswahl an therapeutischen Optionen, so dass keiner mehr überblickt, was es alles gibt. Aber letztlich, wenn man sich genau alle Untersuchungen anguckt: So wirklich durchschlagend ist das alles nicht. Dem Einen oder Anderen hilft es. Aber die meisten Sachen haben nicht unerhebliche Nebenwirkungen. Und ich habe das Gefühl, die Betroffenen werden dadurch in Atem gehalten, im Sinne von: wenn das Eine nicht hilft, dann versuchen wir doch mal das Andere. Und dann sind sie damit immer zugange, statt sich zu fragen: Will ich das? Oder will ich vielleicht andere Schwerpunkte in meinem Leben setzen? Und wie kann ich mit dieser chronischen Krankheit, die derzeit nicht heilbar ist, ein gutes Leben führen? Genau darum geht es doch!

Nachdem du für die DMSG gearbeitet hast, warst du freie Journalistin. Ist in dieser Zeit die MS und deine MS überhaupt ein Thema gewesen?
Also beruflich habe ich mich mehr auf andere Themen konzentriert. Ein ganz wichtiges Thema waren behinderte Frauen. Aber ich habe dann doch nicht ganz vergessen, dass ich MS habe. Und habe dann zusammen mit einer ebenfalls MS-betroffenen Freundin eine Stiftung zur Förderung der psychosomatischen MS-Forschung, die Stiftung LEBENSNERV, gegründet und später ein Peer-Counceling Projekt aufgelegt, in dem wir innerhalb von zwei Jahren zehn MS-betroffene Frauen zu Betroffenen-Beraterinnen ausgebildet haben; und im Laufe dieser zwei Jahre haben wir gemerkt, wie die zehn Frauen innerlich gewachsen sind und wir dachten: Wow! Also natürlich müssen nicht alle MS-Betroffene Berater und Beraterinnen werden, aber sie sollten alle dieses Empowerment mitbekommen. Und damit haben wir wirklich Neuland betreten, wir haben das Empowerment-Konzept sozusagen in die Behinderten-Szene in Deutschland eingeführt. Das war ein deutschlandweiter Erfolg.

Wo du gerade von der Behindertenszene sprichst: Die Leute, die du kennengelernt hast und die Gremien, in denen du tätig warst, haben MS-Betroffene da einen anderen Stellenwert als zum Beispiel Leute mit einer Querschnittlähmung? Und wie siehst du dich, als Mensch mit MS oder als Mensch mit einer Behinderung?
Ich habe nicht das Gefühl, dass sie anders gesehen werden von außen, oder anders behandelt werden. Ich habe aber das Gefühl, dass sie schon selber eine andere Eigenwahrnehmung und zum Teil auch eine andere Anspruchshaltung oder Interessenlage haben als Menschen – was du angesprochen hast – mit einer Querschnittlähmung.
Ich sehe mich als Mensch mit einer Beeinträchtigung, der behindert wird. MS-Betroffene sind schon anders, aber das ist nichts MS-spezifisches, sondern vielleicht etwas, was Menschen mit einer chronischen unheilbaren Krankheit gemeinsam haben. Dass sie sehr auf das Medizinische fixiert sind. Vor allem, wenn die Pharmaindustrie immer noch mit irgendwelchen Neuigkeiten rumwedelt wie mit einer Wurst vor der Nase des Hundes. Während, glaube ich, Querschnittgelähmte sich eher fragen: Ok, wie gehe ich nun damit um? Und wie kriege ich es hin, dass ich genauso viele Rechte in diesem Staat habe wie alle anderen auch? Und dass ich ein gutes Leben haben kann?

Uns als MS-Stiftung ist es unglaublich wichtig, dass MS-Betroffene auch das Sagen in der Stiftung haben. Welchen Stellenwert hat das Thema Selbstbestimmung für dich?
Einen ganz hohen Stellenwert. Wobei ich zwischen Selbstbestimmung und Selbstvertretung nochmal unterscheiden würde. Also Selbstbestimmung bedeutet letztlich die Wahl zu haben zwischen akzeptablen Alternativen und dass mir nicht gesagt wird: „Also du hast jetzt einen Assistenzbedarf. Für dich kommt jetzt nichts anderes in Frage als in dieses oder jenes Heim zu gehen.“ Da möchte ich gerne doch die Auswahl haben, die Möglichkeit, mit Assistenz zu Hause zu leben, oder in die Pflege zu gehen oder oder. Das Andere ist die Selbstvertretung. Das ist in dieser ganzen Selbsthilfeszene auch noch nicht sehr verbreitet. In der DMSG sind zwar Betroffene oft in den Vorständen. Aber auf der Ebene der Hauptamtlichen, die ja letztlich das Sagen haben, da, wo die Entscheidungen getroffen werden, da sind es oftmals die nicht-behinderten Menschen. Das finde ich nicht in Ordnung, denn dadurch sind Betroffene ganz schnell Mittel zum Zweck, damit die Nicht-Behinderten ihren Job haben und ihr Geld verdienen können. Und von daher finde ich es sehr wichtig, dass Organisationen von Betroffenen selber geleitet und verwaltet werden.

Nach meiner Erfahrung ist es schwierig, Menschen mit einer Beeinträchtigung, mit einer Erkrankung, dafür zu begeistern, auch sachverständig zu werden und sich gut auszukennen mit der eigenen Erkrankung, bzw. der eigenen Beeinträchtigung, die überhaupt so eine Gremienarbeit möglich macht. Hast du das anders erlebt?
Ja, ich habe schon das Gefühl, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung sehr willens sind, sich einzubringen und sich auch zu engagieren für die eigenen Belange und sich auch das nötige Know-how anzueignen, das sie haben müssen. Das wird generell in der ganzen Welt so gesehen, es wird immer so geklagt über das Problem Nachwuchszugewinn. Ich denke, das hat viel damit zu tun, dass es heutzutage schon viel akzeptierter ist, mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung berufstätig zu sein oder auch verantwortungsvolle Jobs zu haben, so dass viele dann auch vielleicht ganz gut ausgebildet sind und dann auch einen Job haben. Und wenn eben in der Selbsthilfeszene alles ehrenamtlich ist, dann gehe ich da natürlich auch nicht hin. Wenn wir bei der ISL, wo ich Geschäftsführerin war, Stellen ausgeschrieben haben, die natürlich vernünftig nach TVöD bezahlt werden, dann haben wir ganz viele, ganz qualifizierte Bewerbungen bekommen. Zum Teil auch von MS-Betroffenen.

Was du alles erreicht hast in deinen Berufsjahren, das sind ganz große Meilensteine in der Stärkung der Rechte von Menschen mit einer Behinderung, bei denen du mitgeholfen hast: Verfassungsergänzung 1994, UN-Behindertenrechtskonvention 2006. Die Umbenennung „Aktion Sorgenkind“ zu „Aktion Mensch“. Das ist ja ein großes Erbe. Würdest du denn, wenn du so drauf zurückschaust, einen Unterschied machen zwischen Privatmensch und politischem Mensch?
Also, das war nicht so, dass ich, wenn ich die Bürotür zugemacht habe, die Arbeit vergessen habe, wie das vielleicht bei einem Job am Fließband wäre. Die Themen haben mich immer beschäftigt. Aber gleichzeitig bin ich natürlich auch ein Privatmensch. Ich bin eigentlich total faul, mein Lieblingshobby ist Schlafen und ich reise gerne. Das ist der Privatmensch. Und der politische Mensch ist ja engagiert und auch relativ fleißig auf der anderen Seite, aber irgendwie hat das immer geklappt, das zusammenzubringen. Jetzt bin ich jedenfalls Rentnerin.

Was nimmst du denn aus deiner politischen Arbeit mit in die Rente?
Also, ich bin nach wie vor im Vorstand der Stiftung LEBENSNERV und des „Netzwerk Artikel 3“ und bin für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. ISL-Sprecherin für den Bereich Gender und Diversity. Und was eben so gerade kommt: Jetzt kam Corona, dann kamen Empfehlungen von Medizingesellschaften zur Triage. Da haben wir jetzt einen digitalen runden Tisch gegründet, wo diskutiert werden soll. Weil wir denken, dass müsste eigentlich das Parlament in die Hand nehmen. Also das, was gerade kommt. Da kommt keine Langeweile auf.

Das Gespräch führte Nathalie Beßler
Redaktionelle Mitarbeit: Stefanie Lechner