Die Leitlinie zur Behandlung der MS wurde endlich überarbeitet. Was sich verändert hat und wie sie entstanden ist, berichten hier drei, die dabei waren.
2020 wurde die lange überfällige zur Kommentierung vorgelegte Neufassung der Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen“ veröffentlicht – sie räumt mit alten Strukturen auf und hat zu zahlreichen, mal zustimmenden, mal kritischen, Kommentaren geführt. Nach erneuter Überarbeitung wird die endgültige Version Ende 2020/Anfang 2021 erscheinen.
Als Leitlinie bezeichnet man eine Sammlung von Behandlungsempfehlungen und Hintergrundinformationen für Berufsgruppen, die an der Behandlung einer bestimmten Erkrankung beteiligt sind.[1]AWMF online: AWMF-Regelwerk Leitlinien. Einführung: Was sind Leitlinien?, URL: https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/einfuehrung.html (29.11.2020). Eine Leitlinie soll medizinische Entscheidungen auf dem aktuellen Stand des Wissens erleichtern. Eine Leitlinie darf jedoch nicht als starre Vorschrift gesehen werden, sondern sie erlaubt grundsätzlich, dass in begründeten Fällen zugunsten von Patient*innen von ihr abgewichen wird. Leitlinien-Empfehlungen sind deshalb auch nur als mehr oder weniger starke Empfehlung formuliert: „soll / soll nicht“ (starke Empfehlung), „sollte / sollte nicht“ (Empfehlung) bis zu „kann erwogen / verzichtet werden“ (offene Empfehlung).
Wie wird eine Leitlinie erstellt?
Es gibt verschiedene Entwicklungsstufen für Leitlinien, und zwar S1, S2 (S2k / S2e) oder S3. Die einfachste Form ist die S1-Leitlinie, bei der eine Gruppe von Expert*innen auf einem Gebiet sich formlos auf Empfehlungen einigt. Auf diese Weise kamen die früheren Konsensusempfehlungen und MS-Leitlinien zustande. Auf der nächsten Stufe stehen die S2-Leitlinien. Hier erfolgt die Erstellung strukturiert und nach einem festen Regelwerk. S2k bedeutet, dass die Leitlinienempfehlungen sich auf einen breiten Konsens der verschiedenen Beteiligten stützen. Der Unterschied zu S1 ist unter anderem der, dass es hier nicht nur die Expert*innen einer Therapieschule sein dürfen, sondern im Gegenteil möglichst viele verschiedene Richtungen und Berufsgruppen sowie Patient*innen vertreten sein sollen. Die neue MS-Leitlinie ist eine solche S2k-Leitlinie. Ebenfalls auf Stufe 2 stehen S2e-Leitlinien. Das „e“ steht für „evidenzbasiert“ und bedeutet, dass eine strukturierte Suche nach wissenschaftlichen Nachweisen erfolgt sein muss, die in Empfehlungen umgesetzt wurden. Die höchste Leitlinienentwicklungsstufe wäre eine S3-Leitlinie, weil dort sowohl eine breite Konsensfindung stattfindet als auch eine systematische Evidenzbasierung.
Warum ist die neue MS-Leitlinie „nur“ eine S2k-Leitlinie?
Die Vorgänger-Leitlinie, 2012 veröffentlicht und 2014 aktualisiert, war offiziell als S2e-Leitlinie klassifiziert worden, tatsächlich kam aber eine 2015 vom Kompetenznetzwerk Multiple Sklerose (KKNMS) in Auftrag gegebene systematische Qualitätsbewertung zum Ergebnis, dass wesentliche Kriterien nicht erfüllt waren. Es fehlten auch klare Kriterien zum Umgang mit so genannten Interessenkonflikten derjenigen, die an der Leitlinie mitarbeiteten, und die ermöglicht hätten, dass Leitlinienempfehlungen unabhängig von der Einflussnahme pharmazeutischer Industrieunternehmen sind. In einem früheren ZIMS-Artikel wurde deshalb schon 2016 kritisiert, dass die Leitlinie trotz dieser methodischen Mängel bis 2017 verlängert worden war.[2]J. Scheiderbauer: „Was soll das?“, in: ZIMS, 2016; 1, S. 23–24, URL: https://ms-stiftung-trier.de//wp-content/uploads/2019/02/ZIMS_2_web.pdf (29.11.2020). Es sollte noch bis September 2017 dauern, bis überhaupt mit der Erstellung der neuen Leitlinie begonnen wurde. Dabei wurden erstmals drei wesentliche Qualitätsmerkmale erfüllt, die die vorausgegangene Leitlinie vermissen ließ: die Beteiligung möglichst vieler mit der medizinischen Versorgung von MS-Erkrankten befasster Berufsgruppen und Fachgesellschaften, transparente Regelungen zum Umgang mit Interessenkonflikten und die Mitarbeit von Patient*innenvertretungen. Ziel der neuen Leitlinie war es, für zahlreiche verschiedene Fragestellungen und Krankheitskonstellationen Handlungsempfehlungen abzugeben, die in der Versorgungspraxis immer wieder vorkommen. Bisher blieben solche Situationen dem Ermessensspielraum einzelner Neurolog*innen überlassen, was für die meisten MS-Erkrankten eine äußerst unbefriedigende Situation darstellte. Um die für Patient*innen wirklich relevanten Fragestellungen beantworten zu können, kann die nun erstellte neue Leitlinie keine vollständig evidenzbasierte S2e-, sondern nur eine konsensbasierte S2k-Leitlinie sein, denn für viele Fragen zur Diagnostik und Therapie der MS (z.B. Ältere, Kinder, Schwangere, Therapiewechsel, Therapieende) liegt zu wenig oder nicht ausreichendes Wissen aus klinischen Studien vor. Mit einer S2e-Leitlinie hätte man all diese Aspekte gar nicht behandeln können, aber mit der S2k-Leitlinie ist dies möglich gewesen. S2k ist also kein qualitätsminderndes Kriterium, sondern eine realistische Einstufung bei unvollständiger Datenlage.
Wer hat an der neuen Leitlinie mitgearbeitet?
Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) arbeiteten neben 19 Neurolog*innen auch eine Physiotherapeutin, eine Vertreterin der Pflegeberufe und zwei Patient*innenvertreterinnen, Frau Dr. Faßhauer, bis vor kurzem Vorstandsmitglied und Vorsitzende des Bundesbeirats MS-Erkrankter der DMSG, sowie Jutta Scheiderbauer, an der Leitlinienerstellung mit. Vertreter von insgesamt zehn Fachgesellschaften oder Organisationen waren dabei mit einbezogen. Die beiden die Patient*innen Vertretenden waren den anderen Leitlinienautor*innen gleichgestellt.
Wir ging man mit Interessenkonflikten um?
Ein Auswahlkriterium für die Mitarbeit in der Leitlinienkommission war das Ausmaß der Interessenkonflikte mit der pharmazeutischen Industrie. Große Interessenkonflikte führten zum Ausschluss aus der Leitlinienarbeit, geringere Interessenkonflikte wurden durch unabhängige Gutachten bewertet. Je nach Höhe der Interessenkonflikte wurden Autor*innen von der Mitarbeit an einzelnen Kapiteln und/oder den Abstimmungen über einzelne Empfehlungen ausgeschlossen. Aus der Anwendung dieser Regularien resultierte, dass manche Neurolog*innen aus früheren Leitliniengruppen an der aktuellen Leitlinienarbeit nicht mehr beteiligt sein durften. Nur die beiden Patient*innenvertreterinnen und die Vertreterinnen von Physiotherapie und Krankenpflege hatten überhaupt keine Interessenkonflikte.
Wie ist die Leitlinienkommission vorgegangen?
Die neue Leitlinie besteht aus fünf für die MS-Therapie wichtigen Themenkomplexen. Abschnitt A: Diagnose, Schubtherapie und Algorithmen der Immuntherapie der Multiplen Sklerose; Abschnitt B: Immuntherapeutika, darin eine Beschreibung der Evidenz zu den Einzelsubstanzen; Abschnitt C: Besondere Situationen, darunter „MS und Schwangerschaft“ und „MS bei Älteren, Kindern und Jugendlichen“; Abschnitt D: Symptombezogene Therapie und Abschnitt E: Verwandte Krankheitsbilder: NMOSD und MOG-assoziierte Erkrankungen. Die Inhalte und Empfehlungen wurden jeweils von mindestens zwei Autor*innen der Leitliniengruppe vorbereitet. Anschließend erfolgten die Vorstellung in der Gesamtgruppe und gegebenenfalls weitere Überarbeitungen, bis schließlich entweder in persönlichen Treffen des Komitees oder über ein sogenanntes Delphi-Verfahren strukturiert diskutiert und abgestimmt wurde.[3]AWMF online: AWMF-Regelwerk Leitlinien: Strukturierte Konsensfindung, URL: … Weiterlesen Für einen einfachen Konsens war die Zustimmung von 75% bis 95% der jeweils stimmberechtigten Gruppenmitglieder erforderlich, für einen starken Konsens von mindestens 95%. Wer stimmberechtigt war, variierte von Kapitel zu Kapitel, in Abhängigkeit von den jeweiligen Interessenkonflikten, die zum Ausschluss von der Abstimmung führten, wenn, beispielsweise, ein Mitglied der Leitliniengruppe Verbindungen zu dem pharmazeutischen Unternehmen hatte, welches das MS-Präparat vertrieb, um das es gerade ging. Der Konsensusprozess wurde durch eine Moderatorin der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) unterstützt.
Was sind die wesentlichen inhaltlichen Neuerungen?
1 | Das bisherige Stufenschema der MS-Therapie, das zwei Klassen von Medikamenten entweder für den milden/moderaten Verlauf bzw. für den (hoch-)aktiven Verlauf vorsah, wird nicht weiterverfolgt. Stattdessen erfolgt eine Einteilung in drei Wirksamkeitskategorien. Maßstab ist die in den Zulassungsstudien ermittelte relative Schubratenreduktion. Es werden klare Kriterien für den Therapiebeginn, den Therapiewechsel und die Therapiebeendigung empfohlen. |
2 | Die Leitlinie gibt Empfehlungen, in welcher Situation welche Immuntherapie zur Auswahl steht, und welche nicht. Es wurde der Grundsatz beibehalten, im Regelfall mit einer Substanz aus der niedrigsten Wirksamkeitskategorie zu beginnen, um dann, nur im Bedarfsfall, auf ein stärker wirksames Medikament mit höheren Therapierisiken umzustellen. Es gilt das Prinzip „So viel Therapie wie nötig, so wenig wie möglich“. Das so genannte „hit-hard-and-early“-Konzept[4]J. Scheiderbauer u. Ch. Jung: „Hit hard and early: Multiple Sklerose und „hochaktive“ Verläufe“, in: https://ms-stiftung-trier.de//multiple-sklerose-und-hochaktive-verlaeufe/, 22.06.2018 … Weiterlesen, also der Therapiestart mit einer der starken Immuntherapien als erste Wahl auch bei MS-Erkrankten mit leichten Symptomen, soll mangels ausreichender Evidenz nicht angewandt werden. Die Leitlinienempfehlungen erlauben es aber durchaus, individuell bei Patient*innen mit voraussichtlich schwerem Verlauf von Beginn an mit einer stärker wirksamen Therapie zu starten. |
3 | Es werden die zahlreichen wissenschaftlichen Unsicherheiten, etwa die Schwierigkeiten des Aktivitätsbegriffs bei der MS[5]Ebd., klar benannt. Zusätzlich findet sich ein eigener Abschnitt zur Methodik klinischer Studien und ihren Begrenzungen. |
4 | Die Leitlinie enthält ein sehr umfangreiches Kapitel zu den symptomatischen Therapien mit zahlreichen detaillierten Empfehlungen. Hier ist nämlich die Situation derzeit unbefriedigend, da die Krankenkassen sehr häufig die Kostenübernahme zu sinnvollen symptomatischen Maßnahmen ablehnen, weil der therapeutische Nutzen formal nicht ausreichend belegt sei. Die Leitlinie liefert nun eine bessere Entscheidungsgrundlage für die Kostenübernahme. |
Fazit: Welche Verbesserungen bringt die Leitlinie für MS-Betroffene?
Therapieeinstellungen und Sicherheitsbedürfnisse von MS-Erkrankten sind so individuell und variabel wie die Verläufe, Therapieentscheidungen komplex und mit Unsicherheiten behaftet. Die neue Leitlinie bekennt sich dazu, dass Patient*innen Autonomie ermöglicht wird und das Selbstbestimmungsrecht bei allen Therapieentscheidungen in Anspruch genommen werden kann. Diese Berücksichtigung der Perspektive von Patient*innen bei allen Leitlinienempfehlungen war auch das Hauptanliegen der Patient*innenvertreterinnen in der Leitlinienkommission.
Zum Tragen kommt das in der Ausführlichkeit von Abschnitt D zur Symptombezogenen Therapie, aber auch in den Algorithmen zu Immuntherapie in Abschnitt A. Nun sind in der Leitlinie Optionen vorgesehen, bei voraussichtlich niedriger Krankheitsaktivität zum Zeitpunkt der Diagnose ohne Start einer Immuntherapie zunächst den weiteren Verlauf abzuwarten oder eine Immuntherapie nach einer längeren, stabilen Phase auch wieder zu beenden. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass viele MS-Erkrankte mit schubförmigem Verlauf sich von Beginn an oder im weiteren Verlauf gegen eine Immuntherapie entscheiden, weil sie das Nutzen-Risiko-Verhältnis für sich nicht oder nicht mehr als positiv ansehen. Gleichzeitig werden MS-Erkrankten, die sich eine möglichst intensive Therapie bei aktiver MS wünschen, keine Optionen verbaut. Die neue Leitlinie bezieht somit explizit die Wünsche von Patient*innen in ihre Empfehlungen mit ein. Sie beschränkt umgekehrt nicht die Therapiefreiheit der Neurolog*innen, verlangt ihnen jedoch ab, die für MS-Erkrankte schwerwiegenden Entscheidungen nicht einfach nach Schema F zu treffen, sondern für jeden Einzelfall neu zu überlegen und ihre MS-Patient*innen angemessen aufzuklären.
Sollten sich alle diese Ansprüche an die neue MS-Leitlinie in den nächsten Jahren in der alltäglichen Versorgungspraxis durchsetzen, dann wäre für MS-Betroffene sehr viel erreicht.
Jutta Scheiderbauer mit
Achim Berthele und Bernhard Hemmer
Prof. Hemmer ist Klinikdirektor, Prof. Berthele stellvertretender Klinikdirektor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. Beide waren als Leitlinienkoordinator bzw. Mitglied der Steuergruppe maßgeblich mit der Erstellung der neuen MS-Leitlinie befasst.
Foto: Matt Artz/ Unsplash
Quellen
↑1 | AWMF online: AWMF-Regelwerk Leitlinien. Einführung: Was sind Leitlinien?, URL: https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/einfuehrung.html (29.11.2020). |
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↑2 | J. Scheiderbauer: „Was soll das?“, in: ZIMS, 2016; 1, S. 23–24, URL: https://ms-stiftung-trier.de//wp-content/uploads/2019/02/ZIMS_2_web.pdf (29.11.2020). |
↑3 | AWMF online: AWMF-Regelwerk Leitlinien: Strukturierte Konsensfindung, URL: https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/ll-entwicklung/awmf-regelwerk-03-leitlinienentwicklung/ll-entwicklung-strukturierte-konsensfindung.html (28.11.2020). |
↑4 | J. Scheiderbauer u. Ch. Jung: „Hit hard and early: Multiple Sklerose und „hochaktive“ Verläufe“, in: https://ms-stiftung-trier.de//multiple-sklerose-und-hochaktive-verlaeufe/, 22.06.2018 (29.11.2020). |
↑5 | Ebd. |