Die DGN lässt Biographien von 28 Neurologen aus den Jahren 1933-1945 rekonstruieren und die Frage stellen: Wer war ein Nazi? Viel interessanter ist die Frage: Was kam danach?
2016 legte die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) ihrer Zeitschrift „Der Nervenarzt“ erstmalig ein kleines Heft bei, das sich mit dem Thema „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit“ befasste und eine Handvoll schaurige Biographien aus der NS-Zeit vorstellte (Bericht dazu siehe ZIMS 3). Dieses Heft wurde nun im Februar 2020 mit einem ausführlicheren, fast 150 Seiten umfassenden, Beilagenheft ergänzt.[1]M. Grond, T. Thiekötter (Hrsg.): Neurologen und Neurowissenschaftler in der NS-Zeit, in: Der Nervenarzt, Sonderheft 1/2020, Springer Medizin, Februar 2020.
War die Aufgabe 2016 noch, das Thema überhaupt erst einmal anzugehen und sich dem Vergessen entgegenzustellen, sind die drei, von der DGN beauftragten, Medizinhistoriker Axel Karenberg, Heiner Fangerau und Michael Martin diesmal gründlich vorgegangen und haben Material über 28 Neurologen und Neurowissenschaftlern aus den verschiedenen Archiven und Privatsammlungen zusammengetragen, um so Klarheit in deren „unklare Lebenswege“ (S. 128) zwischen 1933 und 1945 zu bringen.
Die „Motivpalette“
Was sie herausgefunden haben, überrascht nicht: „[…] fast alle gehörten in dieser Zeit irgendeiner NS-Organisation an“ (S. 11). Die Gründe für die Mitgliedschaft waren unterschiedlich. Es gab Neurowissenschaftler, die von echter politischer Überzeugung und Fanatismus für die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus angetrieben waren. So hat der damals international bekannte Neurologe Max Nonne eine Denkschrift verfasst, mit der er sich für die Tötung „absolut unwerten Lebens“ (S. 15) ausspricht; Georg Schaltenbrand ging noch einen Schritt weiter, er hat mit Menschenversuchen an Personen, die nicht einwilligen konnten, zur Multiplen Sklerose geforscht (S. 43ff). Die Neurowissenschaftler Hugo Spatz und Julius Hallervorden aber waren am umfangreichsten in „Euthanasie-Aktionen“ eingebunden, indem sie die Gehirne vieler hunderter ermordeter Patienten im Sinne einer „Begleitforschung seziert“ (S. 89ff) hatten. Der Mehrzahl der untersuchten Biographien weisen die Historiker allerdings „Opportunismus und Mitläufertum bis zu einer rational-pragmatischen Einstellung im Hinblick auf Karriere und Aufstiegschancen“ (S. 135) nach. Hier sind die Forschungsergebnisse über den Neurologen Heinrich Pette sehr aufschlussreich (S. 35ff). Dieser hatte nach 1919 zielstrebig auf eine leitende Position im Klinikum Hamburg Eppendorf hingearbeitet und wollte das Erreichte offensichtlich nicht aufs Spiel setzen. Er unterzeichnete, wie viele Kollegen auch, im November 1933 das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ und war schon ab 1935 ein zentraler Akteur mit Kontakten zur Führungsebene in Partei und Regierung. Akademische Eliten hatten in den Jahren 1933-1945 in ihren Äußerungen offensichtlich große Spielräume, diese wurden nicht nur von der Partei- und Staatsmacht, sondern auch von den Wissenschaftlern selbst abgesteckt, so die Autoren (S. 27). Es handelte sich zwar um ein „politisch kontrolliertes, aber intellektuell offenes Meinungsfeld, das bloß auf einige Begriffshülsen festgelegt war“ (S. 6). In diesem Zusammenhang sind die Äußerungen des Neurologen Oswald Bumke interessant, der sich für das Konzept Schweigen und Abwarten entschieden hatte, aber beteuerte: „So ahnungslos bin ich und sind sehr viele gewesen“ (S. 33), und dass bei Widerstand die Vernichtung gedroht hätte.
Was nach 1945 geschah, ist auch nicht überraschend. Zwar setzten eine juristische Verfolgung und die so genannte Entnazifizierung ein, die aber auf die Zusammensetzung von Führungspositionen im Bereich der Neurologie kaum Einfluss nahm: Nur „vereinzelt kam es zu kurzfristigen Entlassungen und geringen Geldstrafen“ (S. 66). Wie in vielen anderen Bereichen auch stellten Neurologen sich gegenseitig Stellungnahmen zur „Personen-Reinwaschung“, so genannte „Persilscheine“, aus (S. 66) und nicht wenige beteuerten, fälschlicherweise, ihre Mitgliedschaften in den verschiedenen NS-Organisationen seien keine absichtlichen Entscheidungen gewesen, sondern „Unfälle“ oder „Zwangsbeitritte“ (S. 135).
Neugründung der DGN
Es ist dennoch verstörend, wie tief verwurzelt das fehlende Unrechtsbewusstsein in der Führungsebene der DGN war und wie lange es anhielt. In das Jahr 1953 fiel die „Lissabon-Affäre“, bei der niederländische Fachvertreter gegen die Teilnahme Julius Hallervordens am 5. Internationalen Kongress für Neurologie protestierten, aber sich die DGN geschlossen hinter Hallervorden stellte (S. 93). 10 von 13 der zwischen 1950 und 1976 amtierenden Präsidenten der DGN sind Mitglieder von NSDAP, SA oder SS gewesen (S. 129). Einige der zwischen 1950 und 1980 zu Ehrenmitgliedern der DGN ernannten Neurologen sind als NS-belastet einzustufen und die Autoren fragen sich, warum die DGN „noch fast 40 Jahre nach Ende des ‚Dritten Reichs‘ Persönlichkeiten ehrte, die teilweise stark in dessen Biopolitik involviert gewesen waren“ (S. 121). Neben den Ehrenmitgliedschaften sind auch die Auszeichnungen der DGN ein Beispiel für eine bedenkliche Kontinuität, die bis 2000er Jahre anhält. Seit 1960 wurde die Max-Nonne-Gedenkmünze vergeben, seit 1969 der Heinrich-Pette-Preis. Der Hugo-Spatz-Preis wurde zwar 1998 umbenannt (S. 91), aber seit dem Jahr 2000 wird der H. J. Bauer-Rehabilitationspreis vergeben, einem SS-Hauptsturmführer, „einer der Personen, die das politische System mittrugen“ (S. 73), wie man, dank der Autoren, nun sicher weiß.
Konsequenzen
Für die Autoren war die Motivation der DGN zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit klar, es gehe dabei „um Fragen der Moral, des Anstands, der Außendarstellung und der Symbolik“ (S. 3) und man müsse der Frage nachgehen, wie zukünftig mit diesem historischen Erbe der Fachgesellschaft umzugehen sei. Einer der, von den Autoren am Ende der Publikation vorgeschlagenen, Ansätze der Geschichtswissenschaft umfasst, neben der Vergangenheitsbewältigung auch eine Zukunftsoffenheit zu signalisieren (S. 143). Hierzu könnten kritisches Hinterfragen und Neinsagen gehören und auch, deutlich zu machen, dass die DGN sich zukünftig Praktiken und Ideologien nicht mehr anschließt, die Patienten schaden könnten.
Dass die DGN nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der Publikation reagiert hat und nun „alle Wissenschaftspreise und Ehrungen, die mit Eigennamen benannt sind, in 2020 aussetzen und das Moratorium für eine sorgfältige historische Aufarbeitung nutzen“ wird,2 ist aber schlicht der erdrückenden Beweislast der Publikation geschuldet. Weiter ist man noch nicht.
Nathalie Beßler
Quellen
↑1 | M. Grond, T. Thiekötter (Hrsg.): Neurologen und Neurowissenschaftler in der NS-Zeit, in: Der Nervenarzt, Sonderheft 1/2020, Springer Medizin, Februar 2020. |
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