Vergangenheit der DMSG

Dass sich große deutsche Unternehmen oder Institutionen mit ihrer Vergangenheit zur Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen, hat meistens mit dem Druck der Öffentlichkeit zu tun. Dann nehmen sich Historiker der Sache an, und am Ende müssen Vorstände die braune Vergangenheit umfassend eingestehen und nicht selten finanzielle Buße tun. Bei der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) herrschte scheinbar sehr lange kein Druck, hingegen sei man mit der Aufarbeitung einfach „nie vollkommen zufrieden“[1]M. Grond, T. Thiekötter: „Dem Vergessen entgegenstellen“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 1. gewesen und habe daher 2014 einen eigenen Forschungsauftrag an das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln vergeben. Das sei man „den Opfern der NS-Zeit schuldig“.[2]Ebd. Im August 2016 wurden die bisherigen Forschungen dann in einem Heft veröffentlicht, das der Zeitschrift „Der Nervenarzt“ beilag.

Gleich im ersten Artikel des Hefts wird mit dem Finger auf die Psychiatrische Fachgesellschaft gezeigt, deren Aufarbeitung der NS-Zeit erst „spät“ stattgefunden habe. Die Aufarbeitung der DGN fand allerdings noch später und keineswegs ausführlich statt. Es wird erläutert, dass man mit diesem Heft lediglich einen „erzählenden Überblick“[3]H. Fangerau: „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 2ff. bieten könne, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit habe. Es folgt eine Zusammenfassung der bestehenden Forschungsergebnisse durch drei (Medizin)-Historiker, die immer wieder an ihre Grenzen stößt. Für die, seitens der Autoren geforderte, notwendige Archivrecherche reichte entweder das Forschungsgeld nicht oder sie war nicht im Sinne der DGN.

Was an Ergebnissen zusammengetragen wurde, ist dennoch schaurig. Die Neurologie, wie auch die Psychiatrie und die Medizin im Allgemeinen, sind in der Zeit des Nationalsozialismus eng mit dem Begriff Euthanasie verknüpft, also der entgrenzten Forschung und dem „Nutzen von Gelegenheiten“. Die „Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater“ (GNDP) trat in den Dienst der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik. Demnach wurde behauptet, neurologische Leiden, wie die MS, seien erblich bedingt und müssten durch Rassenhygiene, das bedeutete beispielsweise Zwangssterilisation von MS-Betroffenen, eingedämmt werden.[4]M. Martin et al.: „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Voraussetzungen und Rahmenbedingungen vor und nach 1933“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 10. Die Kernaussagen des Hippokratische Eids, wonach kein Schaden zu- und kein Tod herbeigeführt werden darf, seien in dieser Zeit konsequent außer Kraft gesetzt worden.[5]M. Martin et al.: „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Das Beispiel der Epilepsieforschung“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 21. So wollte der Neurologe Georg Schaltenbrand (1897 – 1979) seine Theorie von der MS als Infektionskrankheit beweisen und injizierte dafür 1940 den Patienten einer Heilanstalt den Liquor von Affen. Das waren, selbst zu dieser Zeit, höchst fragwürdige Menschenversuche. Schaltenbrand dazu: „Ich glaube aber doch, die Verantwortung tragen zu können, derartige Versuche an Menschen zu machen, die an einer unheilbaren vollkommenen Verblödung leiden.“[6]Ebd., S. 27. Andere Neurologen haben in dieser Zeit „mit großem Impetus“ Kinderhirne seziert und studiert, nachdem diese im Rahmen der „Kinder-Euthanasie“ ermordet worden waren.[7]Ebd., S. 33 Neurologen, die dem Nationalsozialismus kritisch oder gar ablehnend gegenüberstanden, wurden entlassen und vertrieben. „Von den klinischen Fächern stellten die Psychiatrie und Neurologie mit 65% den höchsten Anteil an entlassenen Hochschullehrern“.[8]Ebd, S. 13ff. Für eine neue Generation Neurologen boten sich danach Stellen und Karrieremöglichkeiten.

Nicht weniger schaurig ist auch die Entwicklung nach 1945. Eine Festschrift der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bezeichnet die NS-Zeit als „Jahre des Widerstands“.[9]Ebd., S. 42.  Eine Aufarbeitung fand also erst einmal nicht statt. Ebenso wenig gab es Anklagen gegen Neurologen im Nürnberger Ärzteprozess. Auszeichnungen, die an Neurologen für ihre NS-Forschung vergeben wurden sowie von ihnen geprägte Eponyme hatten noch lange Bestand. Auch Georg Schaltenbrands Versuche hatten keine negativen Konsequenzen, stattdessen übernahm er 1953 den Vorsitz des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG).

Insbesondere wegen solcher (personeller) Kontinuitäten darf die Aufarbeitung nicht an dieser Stelle stoppen. Speziell bei der DMSG hat bis dato keinerlei Aufarbeitung stattgefunden. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass MS-betroffenen Frauen eine Totaloperation nahegelegt wurde, vermutlich ein Erbe rassenhygienischer Maßnahmen. Im Nachwort des Hefts ist man leider um Relativierung bemüht und lässt nicht viel Hoffnung auf weitere, richtige Forschung. Dass man die Ergebnisse in einem Beilagen-Heft veröffentlicht hat, das man leicht mit einer Werbebroschüre verwechseln könnte, spricht ebenfalls Bände.

Von Nathalie Beßler

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Quellen

Quellen
1 M. Grond, T. Thiekötter: „Dem Vergessen entgegenstellen“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 1.
2 Ebd.
3 H. Fangerau: „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 2ff.
4 M. Martin et al.: „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Voraussetzungen und Rahmenbedingungen vor und nach 1933“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 10.
5 M. Martin et al.: „Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Das Beispiel der Epilepsieforschung“, in: Der Nervenarzt, August 2016; 87 (Supplement 1), S. 21.
6 Ebd., S. 27.
7 Ebd., S. 33
8 Ebd, S. 13ff.
9 Ebd., S. 42.