Bei der letzten Vorstandssitzung der Stiftung waren wir in einer Sache uneins. Nämlich, was von Aktionen zu halten ist, bei denen MS-Betroffene große (sportliche) Leistungen bringen. Sind das coole Offensiven, um deutlich zu machen, wie viele Betroffene einfach tun, was ihnen Spaß macht und der Öffentlichkeit zeigen, dass MS und (sportliche) Leistungsfähigkeit sich nicht ausschließen? Oder ist so etwas doof, weil damit alle Betroffenen, auch die, die körperlich nicht (mehr) so leistungsfähig sind, an diesen Events gemessen werden, im Sinne von: „Der läuft 500 Km, da kannst du doch auch mal die Spülmaschine ausräumen!“
Zwei Positionen dazu:
Nathalie Beßler: Mich freut es, wenn ich sehe, was MS-Betroffene so alles hinbekommen. Natürlich ist es auch super, wenn sie Vollzeit arbeiten oder Kinder großziehen. Aber wenn eine MS-Betroffene Ministerpräsidentin ist oder MS-Betroffene sportliche Herausforderungen meistern, erzielt das medial einfach eine enorme Wirkung. So wie die Geschichte der beiden UPS-Mitarbeiter, die 500 km gelaufen sind, um andere zu motivieren, sich wegen der MS nicht aufzugeben. Über die beiden ist viel berichtet worden. Als ich 2017 eine 600 km lange Radtour gemacht habe oder ein Jahr später 153 km gewandert bin, gab es dazu natürlich auch je ein Bild bei Facebook und Instagram und viel positive Resonanz. Ob es darum geht, Spenden zu sammeln oder, wie in meinem Fall deutlich zu machen, wie falsch die Prophezeiung war, ich würde bald nach der Diagnose im Rollstuhl sitzen: hinter solchen Geschichten steckt der Wunsch, nach der Diagnose nicht abgestempelt zu werden. Denn der Ruf der Krankheit MS ist weiterhin mies und die Vorurteile gegen die Betroffenen zahlreich. Wer das Glück hat, wenige oder gar keine Einschränkungen durch die MS zu haben, sollte sich wegen der eigenen Leistungsfähigkeit nicht schlecht fühlen müssen. Andere Betroffene können solche Nachrichten über „Höchstleistungen mit MS“ ja einfach ganz locker an sich vorüberziehen lassen und sollten sich keinesfalls verpflichtet fühlen.
Désirée Eklund: Grundsätzlich finde ich es natürlich auch toll, was MS-Betroffene alles hinbekommen. Ich freue mich sehr für jeden einzelnen, der ein ganz „normales“ Leben führt und z.B. enorme sportliche Leistungen vollbringt. Das zeigt, dass die MS deutlich besser bzw. weniger schlimm sein kann als ihr Ruf. Das Problem an der Sache ist aber, dass Außenstehende sehr schnell dazu neigen, Betroffene, die dies nicht mehr können, zu verurteilen. Man könne sich doch einfach mal zusammenreißen, andere könnten das doch auch. Das kann unter Umständen einen enormen Druck verursachen und die Frustration darüber, dass man als Betroffener nicht mehr alles das kann, was man gerne machen möchte, verstärken. Viele Symptome sieht man nicht direkt oder auch gar nicht. Es besteht ganz schnell die Gefahr, als Betroffener in eine Situation der Rechtfertigung zu geraten. Sofern man sich nicht selbst mit der eigenen Situation arrangiert hat, zufrieden ist und sich durch das Umfeld nicht unter Druck setzen lässt, kann es immer passieren, dass die Meldungen über beachtliche Leistungen Betroffener nicht dazu führen, sich einfach mitzufreuen, sondern mit der eigenen Situation zu hadern und frustrierter zu sein, als man es vielleicht sowieso schon ist. Ich denke, dass die einzige Möglichkeit, dem entgegen zu wirken, darin besteht, besser aufzuklären. Je fundierter und besser die Aufklärung über MS ist, desto weniger kommt es zu den oben beschriebenen Situationen. Es sollte sich jeder ohne schlechtes Gewissen freuen können, sportliche Leistungen vollbringen zu können. Auf der anderen Seite darf sich niemand durch diese Leistungen unter Druck gesetzt fühlen.
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