Weit über 200.000 MS-Betroffene gibt es in der Bundesrepublik und sie sind allesamt unterversorgt, denn es fehlt ihnen an einer echten und unabhängigen Patientenorganisation, einer Lobby, die nur den Betroffenen und deren Angehörigen gegenüber verpflichtet und bereit ist, sich die Hände für sie schmutzig zu machen. Wie könnte eine solche Organisation aussehen?
Beratungsarbeit durch die Pharmaindustrie fördern zu lassen, ist nur auf den ersten Blick eine gute Idee, denn die Pharmaindustrie hat kein Interesse daran, etwas zu fördern, das hilft, aber mit dem sich kein Geld verdienen lässt. Stattdessen möchte sie Einfluss nehmen und Absatzzahlen der Medikamente erhöhen, das ist auch legitim, aber Gift für jede Beratungsarbeit. Die Unabhängigkeit einer Patientenorganisation würde bedeuten, gar keine Gelder der Pharmaindustrie anzunehmen, um damit Beratungsarbeit, Personal- und Verwaltungskosten sowie die Kosten für Vorträge und sonstige Infoveranstaltungen zu finanzieren. Das hieße wahrscheinlich, dass weniger hübsche Broschüren in den Beratungsstellen zur Verfügung stünden, keine Kugelschreiber oder sonstigen kleinen Geschenke an Infoständen zum Mitnehmen bereitlägen und dass an der Verpflegung gespart werden müsste. Aber es hieße eben auch, dass Beratende einer solchen Patientenorganisation ganz selbstverständlich auch kritisch über Medikamente sprechen könnten, und Beratungsstellen jemanden für einen Vortrag einladen würden, weil sie ihn interessant finden, und nicht, weil der Sponsor/ die Sponsorin ihn mag.
Eine unabhängige Patientenorganisation müsste daher allein mit guter Arbeit überzeugen. Gelänge dies, könnte man, neben sonstigen Sponsor*innen, auch viel mehr Betroffene und Angehörige als Mitglieder gewinnen, denn wer weiß, dass er in einer Beratung mit seinen Sorgen und Ängsten ernst genommen und umfassend informiert wird, ist auch bereit, diese gute Arbeit finanziell zu unterstützen, und wird sich auch mit Engagement und Kreativität beim Spendensammeln beteiligen.
Im Gegensatz zu einer Fachorganisation, in welcher ein Beirat aus Mediziner*innen die ganze Agenda dieser Organisation bestimmt, würde eine unabhängige Patientenorganisation den medizinischen Rat in der Organisation zwar brauchen und schätzen, aber ihren Einfluss stark begrenzen. Denn gute Beratungs- und Informationsarbeit rund um das Thema MS besteht nicht nur aus medizinischen Themen, sondern soll auch über den ärztlichen Tellerrand blicken dürfen.
Eine solche Organisation würde alles daransetzen, dass auch Forschung gefördert wird, die nichts mit lukrativen MS-Medikamenten zu tun hat. Sie würde dafür sorgen, dass relevante Forschungsdaten nicht nur bereitgestellt, sondern deren Relevanz auch für Betroffene und Angehörige verständlich gemacht wird. Auch wenn diese Daten belegen, dass etwas nicht wirkt. Sie würde das Vorhaben, die soziale und medizinische Versorgung von MS-Betroffenen in der Bunderepublik zu optimieren, ernst nehmen und sich in die politische Lobbyarbeit stürzen. Insbesondere die Forderung nach einer Ausstattung der Krankenhäuser mit genügend Personal würde ganz oben auf der Agenda stehen.
Eine echte Patientenorganisation müsste personell in jedem Fall, schon vom Namen her, aus Patient*innen bestehen. MS-Betroffene müssten die Entscheidungen treffen, Geschäfts- und Beratungsstellen leiten oder zumindest zu einem großen Teil deren Personal stellen, durchaus ergänzt durch Betriebswirte, Psychologen und Sozialarbeiter, wenn das für das Funktionieren einer guten Informations- und Beratungsarbeit erforderlich ist. Denn wenn Betroffene das Sagen hätten, würden andere Betroffene und deren Angehörige hören, wie das Leben mit MS wirklich ist, und nicht, wie man es sich schlimmstenfalls vorstellt oder wie es die Medien suggerieren. Es würden eher selten traurige Geschichten erzählt, stattdessen ausgewogen auch von den vielen guten Verläufen berichtet werden. Wenn Betroffene in einer Beratungsstelle arbeiten würden, dann würde man auch wissen, dass man MS nicht „bekämpfen“ kann, sondern lernen kann und lernen muss, mit ihr zu leben. Wer weiß, wie sich das Leben mit MS anfühlt und wie mühsam es sein kann, wer Konflikte durchgestanden und sich Mal um Mal wieder aufgerappelt hat, für den ist klar: Man darf MS-Betroffene nicht in einem Gebäude aus Angst zurücklassen.
Fragen nach Möglichkeiten der Behandlung würden nicht einfach nur mit der Verfügbarkeit von Medikamenten beantwortet werden, und bei Klagen über Beschwerden und Nebenwirkungen würde niemand pauschal lediglich zum „Durchhalten“ und „Dranbleiben“ animiert, sondern umfassend darüber informiert werden, was Betroffene, außer Medikamenten, noch Gutes für sich tun können. Es würde nicht verschwiegen, wie viele Betroffene gar nicht in Behandlung und mit dieser Entscheidung zufrieden sind. Bei Fragen rund um das Thema Berufstätigkeit bei MS würden betroffene Berater nicht sofort zur Erwerbsminderungsrente raten, denn sie wissen genau, wie wichtig das Berufsleben ist, um sozialer Isolation und Depression vorzubeugen. Sie würden mit einer großen Kampagne dafür sorgen, dass der schlechte Ruf von MS-betroffenen Arbeitnehmer*innen abgebaut wird und alle solange wie möglich im Beruf bleiben können. Überhaupt würden sie nur eigene Kampagnen anstoßen, nicht einfach kopieren, was andere Organisationen weltweit entwickelt haben, sondern punkten mit Inhalten, die die Lebenswirklichkeiten der MS-Betroffenen in Deutschland wiedergeben und verbessern helfen.
So viele MS-Betroffene in Deutschland wissen vielleicht gar nicht, was ihnen fehlt und was sie haben könnten. Sie sollten sich nicht mit weniger zufrieden geben.
Nathalie Beßler