Für die Multiple Sklerose werden zunehmend Medikamente in klinischen Studien untersucht und nach und nach auch zur Behandlung zugelassen. Die Medikamente werden von der pharmazeutischen Industrie entwickelt, die auch die klinischen Studien plant, in Kooperation mit Ärzt*innen durchführt und auswertet. Wie plant man eigentlich eine solche Studie?
1. Bisheriger Wissensstand und Fragestellung
Am Anfang einer Studienplanung steht die Erstellung des sogenannten Studienplanes, und dieser wiederum beginnt mit der Beschreibung des bisherigen Wissensstandes zum Forschungsthema und der Darlegung der Fragestellung der geplanten Untersuchung. Eine klinische Studie muss gut begründet sein, weil experimentelle Therapieverfahren an Menschen getestet werden. Dies kann man nur verantworten, wenn die zu erwartenden Erkenntnisse relevant sind. Sie müssen einen zusätzlichen Nutzen zum aktuellen Stand der Medizin erbringen können. Der Nutzen kann entweder darin bestehen, die Effektivität der Behandlung zu verbessern oder die Nebenwirkungen bisher verfügbarer Behandlungen zu vermeiden. Erfolg oder Misserfolg einer Therapie müssen an vorher exakt festgelegten Kriterien gemessen werden können.
Bei der Multiplen Sklerose als chronischer, nicht heilbarer Krankheit mit verschiedenen Verlaufsformen kommen mehrere Parameter in Frage, die als Maß für die Therapiewirksamkeit dienen können: Anzahl der Schübe, Grad der Behinderung, Einzelsymptome, Fatigue, geistige Leistungsfähigkeit, Lebensqualität oder auch Krankheitsaktivität in der Kernspintomographie. Für die Interpretation der Studienergebnisse in Bezug auf den individuellen Nutzen müssen Patient*innen wissen, dass eine klinische Studie nur die Fragestellung beantworten kann, die vorher formuliert wurde.
2. Das Studiendesign
Angenommen, es geht um eine bisher unheilbare Krankheit, die bei ausnahmslos allen Patient*innen schnell zum Tode führt, und man möchte ein mögliches Heilmittel untersuchen. Dann kann man ein ganz einfaches Studiendesign wählen. Alle Studienpatient*innen bekommen das potentielle Heilmittel, und sollte es Patient*innen geben, die überleben oder deren Lebenszeit verlängert wird, kann man das Medikament als wirksam betrachten. Dieser Typ der Studie ist eine “Beobachtungsstudie”: Alle werden gleich behandelt und man beobachtet, was dabei herauskommt.
Weiter nehmen wir an, das jetzt zugelassene Heilmittel hat schwere Nebenwirkungen, und ein Teil der Behandelten stirbt statt an Krankheitsfolgen an Therapiefolgen. Es wird deshalb ein zweites Behandlungsverfahren entwickelt und getestet, die Nebenwirkungen sind möglicherweise geringer, die Wirkung könnte vergleichbar gut sein. Um das zweite Medikament zulassen zu können, muss es jetzt im Vergleich mit der bereits verfügbaren Behandlung getestet werden. Es gibt zwei Gruppen von Studienpatient*innen: die Behandlungsgruppe mit der experimentellen Therapie und die Kontrollgruppe mit der Standardtherapie. Dieses Studiendesign nennt man eine “kontrollierte Studie”.
Jetzt kommen wir zur Multiplen Sklerose. Diese Krankheit verläuft anders als die oben beschriebene hypothetische Erkrankung. Sie führt im Allgemeinen nicht zum Tode, der individuelle Verlauf ist zu Beginn nicht vorherzusehen, die Symptomatik uneinheitlich und wechselhaft. Auch ohne Medikamente gibt es Betroffene, die ein Leben lang keine bleibende Behinderung erleiden werden. Als in den 1990er Jahren die Effektivität der Beta-Interferone nachzuweisen war, führte man kontrollierte Studien durch, in denen die Patient*innen der Kontrollgruppe ein sogenanntes “Placebo”, ein Scheinpräparat ohne Wirksamkeit, erhielten. Mit der Placebogruppe wurde der natürliche Verlauf der Erkrankung während der Studienlaufzeit imitiert. Da die Schubrate der Patient*innen in der Interferongruppe geringer war als in der Placebogruppe, und das in mehreren Studien mit Interferonpräparaten, wurden diese zur Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen.
Man könnte theoretisch Studienergebnisse in die gewünschte Richtung beeinflussen, wenn man alle jungen, kräftigen und motivierten Patient*innen dem experimentellen Behandlungsarm zuteilte und allen Älteren, Schwächeren und Unmotivierten der Placebogruppe. Dann ginge die höhere „Wirksamkeit“ des Studienmedikamentes nicht auf die Wirksubstanz zurück, sondern auf die prognostisch bessere Patient*innengruppe, die dafür ausgesucht wurde. Dies vermeidet man durch die sogenannte “Randomisation”, eine zufallsmäßige Zuteilung der Studienpatient*innen zu den Therapiearmen. Heutzutage erledigt das im Regelfall ein Computerprogramm.
Bei der schubförmigen Multiplen Sklerose wird häufig die Schubrate als Erfolgskriterium gewählt. Die Definition eines Multiple-Sklerose-Schubes folgt jedoch subjektiven Kriterien. Die meisten MS-Betroffenen sind damit vertraut, dass oft eine gewisse Unsicherheit besteht, ob es sich bei verstärkten neurologischen Symptomen um einen Krankheitsschub oder um eine Verschlechterung der Erkrankung durch Stress, Erkältung oder Ähnliches handelt. Auch wenn man versucht, objektiv zu bleiben, kann das Wissen um die Therapie der Studienpatient*innen den Patient*innen selbst oder die Studienärzt*innen dazu verleiten, sich im Zweifelsfall bei der Entscheidung „Schub – oder nicht?“ von diesem Wissen beeinflussen zu lassen. Der Wunsch auf eine erfolgreiche Behandlung kann jene, der die experimentelle Therapie bekommen, dazu veranlassen, Symptome herunterzuspielen. Der gleiche Wunsch kann Ärzt*innen dazu veranlassen, die verschlechterte Symptomatik von Patient*innen in der Placebogruppe einem Schub zuzurechnen. Deshalb sind gute klinische Studien kontrolliert, randomisiert und zusätzlich “doppelt verblindet”, niemand weiß, wer das Studienpräparat und wer das Placebo bekommt. Unsicher ist die Verblindung jedoch immer dann, wenn das Studienmedikament starke Nebenwirkungen verursacht, die das Placebo natürlich nicht hat. Das ist leider bei den Beta-Interferonen der Fall.
3. Ein- und Ausschlusskriterien
Im Studienplan wird definiert, welche Patient*innen in die geplante klinische Studie eingeschlossen werden können. Dies erfolgt mit Hilfe von Ein- und Ausschlusskriterien. Unter Einschlusskriterien versteht man alle Eigenschaften, die Patienten erfüllen müssen, um in die Studie aufgenommen werden zu können. Ausschlusskriterien dagegen schließen Patienten von der Studienteilnahme aus. Ziel dieser eingeschränkten Auswahl von Patient*innen ist es, eine möglichst homogene Gruppe zu erhalten, damit Erfolg oder Misserfolg der Studienbehandlung ausschließlich auf die Behandlung selbst zurück zu führen sind.
Typische Einschlusskriterien sind die Krankheitsdiagnose, das genaue Stadium, das Alter und Geschlecht, bestimmte Untersuchungen, die vorausgegangen sein müssen, und selbstverständlich das Einverständnis der vorher umfangreich aufgeklärten Patient*innen. Ausgeschlossen werden häufig Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, Schwangere und Stillende, sehr alte Menschen und Menschen mit schweren Begleiterkrankungen, die gleichzeitige Teilnahme an einer anderen Studie sowie Patient*innen, die die erforderlichen Studientermine nicht einhalten können. Letztlich kommt es auf die Fragestellung der Studie an, welche Auswahlkriterien zugrunde gelegt werden. Für die Interpretation der Ergebnisse einer klinischen Studie ist es sehr wichtig, die Ein- und Ausschlusskriterien bzw. die Zusammensetzung des untersuchten Patientenkollektivs zu kennen, denn nur für diese Patienten gelten die Studienergebnisse.
Ist ein Arzneimittel einmal zugelassen, können später auch Menschen damit behandelt werden, die in die Studie beispielsweise wegen einer schweren Begleiterkrankung nicht eingeschlossen worden wären. So erklärt sich unter anderem, dass Studienergebnisse oft besser sind als die Therapieerfolge in der Krankenversorgung außerhalb klinischer Studien.
4. Festlegung der Endpunkte
Aus der Sicht von Neuerkrankten heraus wäre neben der möglichst kompletten Rückbildung der MS-Symptome ein Krankheitsstillstand oder ein langsamer Krankheitsverlauf wünschenswert. Leider kennt man die individuellen Verläufe erst nach vielen, vielen Jahren. Medikamentenstudien mit der Erhebung von „gutartigen Verläufen“ würden Ergebnisse erst nach 10, 20 oder 30 Jahren bringen, wer wollte so lange warten? Deshalb muss Ersatz her, sogenannte Surrogatparameter. Diese sind nach kürzerer Zeit, bei MS im Allgemeinen zwei bis drei Jahren, messbar und sollen auf den Gesamtverlauf der Erkrankung schließen lassen.
Der natürliche MS-Verlauf variiert im Laufe eines Lebens unvorhersehbar, Zeiten der Stabilität wechseln mit Zeiten spürbarer Aktivität ab. Man kann dementsprechend die Anzahl von Schüben in einem bestimmten Zeitraum messen, oder die Zeit bis zum Auftreten des nächsten Schubes, oder die Zeit bis zum Voranschreiten der körperlichen Behinderung, oder das Ausmaß der Behinderungszunahme pro Jahr.
Doch auch in Zeiten, in denen Patient*innen kein Voranschreiten bemerkt, kann es Aktivität der Erkrankung geben, die man heutzutage in der Kernspintomographie erkennen kann. Auf den Bildern kann man auch wiederum vieles messen: Anzahl der MS-Herde insgesamt, die sich im Laufe der Erkrankung angesammelt haben oder deren Gesamtvolumen, Anzahl der Gadolinium (Kontrastmittel) -aufnehmenden Herde, die dann ganz frisch sind, Gehirnvolumen oder Weite der Innenräume des Gehirns zur Messung der Hirnatrophie, Veränderung des Hirnvolumens oder der Anzahl der MS-Herde im Laufe der Zeit.
MS macht aber auch Beschwerden, die subjektiv und sehr schwer zu erfassen sind, beispielsweise kognitive Einschränkungen und Fatigue. Die Fatigue muss man mit Hilfe einer Befragung, oder durch Messungen am Computer, die das Nachlassen von Konzentration und Aufmerksamkeit nachweisen, quantifizieren. Kognitive Einschränkungen spiegeln sich beispielsweise in einem verringerten Intelligenzquotienten oder Gedächtnisstörungen wieder.
Alle aufgezählten Möglichkeiten, die MS-Aktivität zu messen, nennt man in der Nomenklatur klinischer Studien „Endpunkte“ oder „Zielgrößen“. Der „primäre Endpunkt“ muss die Antwort auf die Hauptfragestellung der Studie messen, „sekundäre Endpunkte“ kann man zusätzlich erheben, aber man kann damit keine Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Medikamentes nachweisen.
Der häufigste primäre Endpunkt in den klinischen Studien, die MS-Medikamente für die schubförmige Verlaufsform testeten, war die mittlere jährliche Schubrate in der Gruppe mit dem Studienmedikament im Vergleich zur mittleren jährlichen Schubrate in der Placebogruppe in einem Studienzeitraum von zwei bis drei Jahren, ein klassischer Surrogatparameter. Bis heute ist nicht belegt, dass eine geringere mittlere jährliche Schubrate im kurzen zeitlichen Verlauf den Gesamtverlauf individueller Patienten positiv beeinflusst. Noch weniger gilt das für langfristige Vorhersagen zum Verlauf der Hirnatrophie oder kognitiver Leistungen.
Das bedeutet, dass die Verwendung von Surrogatparametern zwar hilft, Medikamente schneller auf den Markt zu bringen, deren Nutzen sich aber trotzdem erst nach sehr vielen Jahren herausstellen wird, oder eben nicht. Und genau so unsicher ist die Arzneimittelsicherheit, manche Spätfolgen treten erst nach langer Zeit auf. Es sind auch nach der Zulassung weitere systematisch Studien zur Optimierung der Behandlung notwendig. Leider wird das bisher von den Neurolog*innen im MS-Bereich unterlassen.
Jutta Scheiderbauer
Foto von Kelly Sikkema bei Unsplash