Wie Kinder die MS-Erkrankung eines Elternteils erleben und verarbeiten.
Wer MS hat, sollte das seinen Kindern mitteilen, die Information sei allerdings traumatisch für die Kinder. So liest man es oft in Ratgebern zum Thema „Eltern sein mit MS“. Aber könnte es nicht auch sein, dass jede Familie das einfach so handhaben sollte, wie sie will und dass Kinder das alles nicht so tragisch sehen, weil die MS eben einfach zu Mama oder Papa dazugehört? Wir haben bei drei erwachsenen Kindern von MS-Betroffenen nachgefragt.
Lucas, Finn und Anna (Namen von der Redaktion geändert) waren noch nicht oder kaum auf der Welt, als ein Elternteil mit MS diagnostiziert wurde. Alle drei sind also mit der MS ihrer Eltern aufgewachsen. Lucas Vater erhielt die Diagnose schon vor der Geburt seines Sohnes und hatte von Beginn an mit Bewegungseinschränkungen zu tun. Er nutzt nun häufiger den Rollstuhl zur Fortbewegung, ist aber weiterhin berufstätig. Lucas ist Ende 20 und Kaufmännischer Leiter eines mittelständischen Unternehmens. Die MS von Annas Mutter macht sich vor allem über Sehnerventzündungen bemerkbar, auch sie wurde bereits viele Jahre vor der Geburt ihrer Tochter diagnostiziert und arbeitete noch bis vor kurzem als Lehrerin. Anna ist 20 Jahre alt, lebt bei ihrer Mutter und jobbt, bis sie weiß, wohin es gehen soll. Finns Mutter ist Ärztin, ihre MS wurde diagnostiziert, kurz nachdem Finn geboren wurde. Neben Bewegungseinschränkungen ist Fatigue das Hauptsymptom, weswegen sie auch berentet ist. Finn ist 24 Jahre alt und studiert Informatik.
Wie haben sie von der MS ihrer Eltern erfahren?
An so etwas wie ein Informationsgespräch, in welchem Mama oder Papa die MS erklärten, erinnert sich nur einer der drei. Welche Erfahrungen sie als Kinder mit der MS ihrer Eltern gemacht haben, hängt auch davon ab, wie sichtbar die MS in ihrem Familienalltag war. Anna hat von der MS ihrer Mutter, sagt sie, so gut wie nichts mitbekommen, außer wenn diese mal „müde war und so“, dann hätte die Mutter ein wenig über die MS gesprochen. Auch Finn hat keine frühen Erinnerungen daran, wie er auf die MS seiner Mutter aufmerksam wurde, ihn habe aber seine Mutter vor kurzem noch daran erinnert, dass er sie als Kind mal erwischt habe, wie sie sich ein MS-Medikament gespritzt hat. „Und da hat sie mir wohl ein bisschen was erzählt. Aber daran erinnere ich mich gar nicht mehr.“ Gut erinnert er sich aber an ein Gespräch, als er etwa 12 Jahre alt war, „als sie mir das das erste Mal richtig erzählt hat, was das mit der MS ist.“ Sie sei auch diejenige, die er gefragt hat, wenn er Fragen zum Thema MS hatte, sagt er.
Für Lucas war die MS seines Vaters deutlich sichtbar, was für ihn als Bub aber kein großes Problem darstellte. „Wir haben Fahrradtouren und Spaziergänge zusammen gemacht. Was halt nicht ging, war zusammen mit dem Papa Fußball spielen. Aber dadurch, dass ich es nie gekannt habe, war es für mich auch eigentlich nicht schlimm und ich hab‘ dann sowieso immer mit meinen Freunden Fußball gespielt.“ Die Erkrankung seines Vaters sei immer irgendwie normal für ihn gewesen: „Ich kenn‘ den Papa halt nicht anders.“ Seine Eltern hätten ihm, so berichtet er, immer vermittelt: „Das geht nicht mehr weg, aber der Papa wird jetzt auch nicht da dran sterben.“ Wenn er etwas über die MS seines Vaters wissen wollte, habe er aber häufiger seine Mutter befragt. Woran das lag? „Mein Papa ist wahrscheinlich so ein bisschen wie ich auch: Wir beide sind jetzt nicht die Menschen, die großartig über Gefühle und so Sachen reden. Da hatte ich dann immer einen etwas emotionaleren Draht zu der Mama.“
Was bedeutet ihnen das Thema Kranksein?
In Ratgebern liest man auch oft, dass Kinder von MS-Betroffenen, wenn sie den Schock, dass ein Elternteil erkrankt ist, erstmal überwunden hätten, sehr sensibel und hilfsbereit seien, wenn andere in ihrem Umfeld von gesundheitlichen Problemen berichteten. So als würden automatisch Superkräfte entstehen. Hier ist die Situation im Leben der drei etwas komplizierter, denn zwei von ihnen haben auch schon eigene Erfahrungen mit (schweren) Erkrankungen gemacht. Anna nimmt das Thema Erkrankung, auch bei sich selbst, nicht so schwer. Während ihre Mutter sie schon mal auffordere, etwas untersuchen zu lassen, denkt sie sich eher: „Das geht schon wieder weg. Ja, ich bin da eigentlich ganz easy.“ Finn, der als Kind selbst an einer Gehirnentzündung erkrankte, sieht das Thema Erkrankung um einiges ernsthafter: „Wenn ich dann sowas höre, dann fühle ich schon, dass das schrecklich ist, dass jemandem etwas sehr Unglückliches passiert ist.“ Er empfinde Erkrankungen insgesamt als sehr unfair, sagt er, und fühle sich dann oft auch hilflos, wenn er davon höre. Angst machen ihm auch die „wirklich großen Sachen, aber die halt in der Zukunft liegen. Mal Demenz zu kriegen oder sowas.“ Auch selbst an MS zu erkranken, mache ihm Sorgen.
Lucas sagt, dass sich durch seine vielen Verletzungen beim Fußballspielen eine gewisse Gelassenheit eingestellt habe. Allerdings entwickelte er vor ein paar Jahren ein Zittern, einen Tremor, der irgendwann ein MRT und ein Gespräch beim Neurologen nötig machte. Hier stand auch kurz der Verdacht auf MS im Raum, der sich aber nicht bestätigte. Seine generelle Einstellung zum Thema Erkrankung sei, so sagt er: „dass ich, wenn ich sowas höre, einfach dankbar dafür bin, dass ich gesund bin; dass es mir halt gutgeht. Und was ich eigentlich für ein krasses Leben hab‘.“ Was das Leben mit einer Erkrankung und den Umgang damit angeht, blickt Lucas stolz auf seinen Vater: „Ich bewundere den halt einfach für seine Stärke. Dass man auch einfach sagt: Okay, ich hole mir jetzt so einen Rollstuhl und fahr‘ jetzt auch zu öffentlichen Veranstaltungen und hab‘ keine Scheu meine Krankheit zu zeigen, und wenn mich jemand darauf anspricht, gehe ich offen damit um. Also das ist halt schon was, wo ich ihn wirklich für bewundere.“
Wie schauen die drei in die Zukunft?
Während Anna, was die MS ihrer Mutter angeht, bis heute sorglos ist, machte Finn sich schon früh Sorgen, dass seine Mutter bald ein Pflegefall sein würde. „Von sehr, sehr jung an hatte ich das Gefühl meiner Mutter helfen zu müssen. Da hatte ich eine gewisse Angst vor sowas. Und je älter ich wurde, ist die Angst weggegangen, weil ich es verstehen konnte. Aber, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, die Furcht oder die Erwartung, dass da mehr Verantwortung oder mehr zu tun kommen könnte, auch für mich, ist schon da.“ Auch Lucas hat sich lange keine Gedanken darum gemacht, wie es mit seinem Vater weitergeht: „Ich kann mich eigentlich erst so seit jetzt ein paar Jahren dran erinnern, dass ich mir da wirklich auch intensiv drüber Gedanken mache, wie das auch später mal so in zehn, 15, 20 Jahren wird.“ Für ihn ist heute wichtig, Vorsorge zu treffen. Er und seine Lebensgefährtin planen, bald zusammen mit seinen Eltern in ein gemeinsames Haus zu ziehen. „Ich freue mich jetzt auf jeden Fall mit denen dann zukünftig auch nochmal mehr Zeit zu verbringen und freue mich, dass wir ihm da helfen können. Das ist, denk‘ ich, ja auch als Familie das Wichtigste, dass man zusammenhält und dann ist es eben egal eigentlich was da für eine Krankheit kommt“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nathalie Beßler
Redaktionelle Mithilfe: Stefanie Lechner
Foto: Yudi Indrawan/ Unsplash