Uns ist wiederholt zu Ohren gekommen, dass offenbar Neurolog*innen MS-erkrankten Frauen mit Kinderwunsch zu einer Therapie mit Ocrevus® raten, weil man darunter angeblich problemlos schwanger werden könne, und zwar schon bis zu vier Wochen nach der letzten Infusion. Eine solche Empfehlung ist zum einen medizinisch nicht nachzuvollziehen und entspricht zum anderen weder der Zulassung noch den Therapieempfehlungen des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) oder der kommenden neuen MS-Leitlinie. Was steckt also dahinter?
Ocrevus® kann bei bestehender Schwangerschaft nur in Ausnahmefällen, bei sehr hoher und schnell behindernder Aktivität der MS, gegeben werden. Generell gilt aber, laut Zulassung in der Europäischen Union für Frauen im gebärfähigen Alter, dass bei Kinderwunsch nach der letzten Ocrevus®-Infusion für 12 Monate eine Empfängnisverhütung anzuwenden ist, in den USA nur für 6 Monate, bevor die Schwangerschaft geplant werden darf. Zwar sind nach gegenwärtigem Erkenntnisstand keine Fehlbildungen bei Neugeborenen zu befürchten, doch besteht das Risiko einer Immunschwäche. Auch hierzulande gibt es Experten, die einen Zeitraum von 4-6 Monaten nach der letzten Infusion für ausreichend halten, weil in dieser Zeit das Medikament vom Körper abgebaut wurde.[1]T. Kümpfel et al.: “Anti CD20 therapies and pregnancy in neuroimmunological disorders – a case series from Germany”, in: … Weiterlesen Vorher aber ist es noch nachweisbar und kann im Falle einer Schwangerschaft auch die Plazentaschranke überwinden, also auf das ungeborene Kind übergehen.
Nach der europäischen Produktinformation zu Ocrevus® haben 72 Wochen nach der Infusion erst 50% der Behandelten ihre volle B-Zellzahl zurückgewonnen, das kann aber durchaus auch mehr als zweieinhalb Jahre dauern.[2]European Medicines Agency, „Produktinformation Ocrevus. ZUSAMMENFASSUNG DER MERKMALE DES ARZNEIMITTELS “, … Weiterlesen Wie das unreife Immunsystem von Ungeborenen reagiert, wissen wir nicht. Es können somit Neugeborene mit Immunschwäche auf die Welt kommen, wenn die Empfängnis innerhalb der ersten vier Monate nach der letzten Infusion mit Ocrevus® eingetreten ist. Sollten die Mütter bereits eine längere Ocrevustherapie hinter sich haben, könnte sich bei ihnen zusätzlich ein Antikörpermangel ausgebildet haben. Normalerweise verfügen Säuglinge in den ersten drei Monaten ihres Lebens über einen Antikörperschutz der Mutter, der im Falle eines Antikörpermangels dann auch unvollständig wäre.
Die Firma Roche, die das Medikament Ocrevus® produziert, unterhält ein eigenes Register, dass den Ausgang von Schwangerschaften, die während einer laufenden Ocrevustherapie entstanden, untersucht. Neben Mitarbeiter*innen von Roche gehört auch Frau Prof. Hellwig, die Leiterin des Deutschen Kinderwunschregisters (DMSKW) in Bochum, zu den Autor*innen einer entsprechenden Veröffentlichung.[3]D.Wormser et al., “Ocrelizumab Pregnancy Registry to Assess Maternal, Fetal and Infant Outcomes in Women with Multiple Sclerosis Exposed to Ocrelizumab during Pregnancy”, in: … Weiterlesen Daten aus genau diesem Register von lediglich 118 Schwangerschaften bei MS-Betroffenen, bei denen das Ungeborene dem Wirkstoff Ocrelizumab ausgesetzt war, wurden 2019 auf dem ECTRIMS-Kongress veröffentlicht, wobei nur bei 54 Frauen (46%) zum Zeitpunkt der Auswertung überhaupt bekannt war, wie die Schwangerschaften ausgegangen waren: 27 (23%) brachten ein gesundes Kind zu Welt, bei 4 (3%) kam es zu einer Frühgeburt, bei weiteren 4 (3%) kam es zu einer Fehlgeburt, einmal zu einer Eileiterschwangerschaft und einmal zu einer Totgeburt, 17 (14%) hatten sich für einen geplanten Schwangerschaftsabbruch entschieden. Dagegen dauerte bei 36 Frauen (31%) zum Zeitpunkt der Datenerhebung (31. März 2019) die Schwangerschaft noch an und bei 28 (24%) war unbekannt, wie die Schwangerschaft verlaufen war.[4]4 C. Oreja-Guevara, S. Wray et al.: Pregnancy Outcomes in Patients Treated With Ocrelizumab, ECTRIMS, 12.09.2019, … Weiterlesen Diese geringen Fallzahlen sind aber kein Nachweis der Unbedenklichkeit, zumal keine Angaben gemacht wurden, zu welchem Zeitpunkt die Ocrelizumabgabe erfolgt war, und die Auswertung sich nicht auf die Zeit nach der Geburt erstreckte, in der Immunschwächen bei den Neugeborenen erst zum Tragen gekommen wären. Das DMSKW gibt die Vorsichtsmaßnahmen, die für Ocrevus® in Bezug auf Verhütung gelten, zwar korrekt wieder, wirbt aber gleichzeitig für die Teilnahme an einem „internationalen Register“, vermittelt durch das DMSKW, sollte eine Schwangerschaft unter Ocrevustherapie eintreten.[5]MS und Kinderwunsch. Register DMSKW, „Allgemeine Informationen. Sicherheitsdaten in Schwangerschaft und Stillzeit. Ocrelizumab/Ocrevus®, in: … Weiterlesen Dabei kann es sich eigentlich nur um das oben genannt firmeneigene Schwangerschaftsregister der Herstellerfirma Roche handeln, die damit eine so genannte „Post-Marketing Study“, also eine Studie nach der Zulassung durchführt. [6]A.V. Margulis et al., “Post-Marketing Study to Evaluate Pregnancy and Infant Outcomes in Women with Multiple Sclerosis Exposed to Ocrelizumab during Pregnancy”, in: … Weiterlesen Man sollte sich bei Ratschlägen, man könne unter Ocrevus® problemlos schwanger werden, bewusst sein, dass dahinter vor allem ein kommerzielles Interesse der Firma Roche steht, möglichst viele Schwangerschaften in ihrem Register zu sammeln. Und dass man dort, dem üblichen Marketing-Schema folgend, versuchen wird, Neurolog*innen in diese Richtung zu beeinflussen.
Wenn Sie zur Zeit schon mit Ocrevus behandelt werden, und Sie gehören nicht zu den seltenen Ausnahmen mit hochaktiver MS mit schnell fortschreitender Behinderung, halten Sie zumindest die sechs Monate Abstand zur letzten Infusion ein, die die amerikanische Zulassungsbehörde FDA empfiehlt. Sollte Ihnen dagegen jemand einen kürzeren Abstand, z.B. sechs bis acht Wochen, oder sogar einen Wechsel auf Ocrevus von einer anderen Immuntherapie mit dem Argument der risikolosen Schwangerschaft empfehlen, konfrontieren Sie ihn bitte mit Fragen nach der möglichen Gefährdung der Gesundheit ihres zukünftigen Kindes, und ob Ihr persönliches Risiko durch eine Therapiepause denn überhaupt so hoch wäre, dass es ein Risiko für das Kind rechtfertigen würde. Im Zweifelsfall holen Sie sich lieber Rat ein bei jemandem, der auch das Wohl Ihres Kindes im Auge hat.
Jutta Scheiderbauer
Quellen
↑1 | T. Kümpfel et al.: “Anti CD20 therapies and pregnancy in neuroimmunological disorders – a case series from Germany”, in: https://onlinelibrary.ectrims-congress.eu/ectrims/2018/ectrims-2018/228532/tania.kmpfel.anti.cd20.therapies.and.pregnancy.in.neuroimmunological.disorders.html?f=menu%3D6%2Abrowseby%3D8%2Asortby%3D2%2Amedia%3D3%2Ace_id%3D1428%2Aot_id%3D20004 o.J. [23.02.2021]. |
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↑2 | European Medicines Agency, „Produktinformation Ocrevus. ZUSAMMENFASSUNG DER MERKMALE DES ARZNEIMITTELS “, in:https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/ocrevus-epar-product-information_de.pdf o.J. [23.02.2021]. |
↑3 | D.Wormser et al., “Ocrelizumab Pregnancy Registry to Assess Maternal, Fetal and Infant Outcomes in Women with Multiple Sclerosis Exposed to Ocrelizumab during Pregnancy”, in: https://cmsc.confex.com/cmsc/2018/webprogram/Paper5571.html 31.05.2018 [23.02.2021]. |
↑4 | 4 C. Oreja-Guevara, S. Wray et al.: Pregnancy Outcomes in Patients Treated With Ocrelizumab, ECTRIMS, 12.09.2019, in:https://medically.roche.com/en/search/pdfviewer.496a4ec1-45be-4d48-811f-5c67ca333497.html?cid=qrprxx1909nexxectrims2019&fbclid=IwAR1ZqOu5x2qrJftxEf979__p4nyswUDV_0WlrOorkcE3OF8wAFl6kjlCGio [23.02.2021]. |
↑5 | MS und Kinderwunsch. Register DMSKW, „Allgemeine Informationen. Sicherheitsdaten in Schwangerschaft und Stillzeit. Ocrelizumab/Ocrevus®, in: https://www.ms-und-kinderwunsch.de/allgemeine-informationen.html o.J. [23.02.2021]. |
↑6 | A.V. Margulis et al., “Post-Marketing Study to Evaluate Pregnancy and Infant Outcomes in Women with Multiple Sclerosis Exposed to Ocrelizumab during Pregnancy”, in: https://cmsc.confex.com/cmsc/2018/webprogram/Paper5569.html 31.05.2018 [23.02.2021]. |