Diesmal dabei: Brutontyrosinkinase-Inhibitoren und Rückenmarksläsionen
Den Tag nicht vor dem Abend loben!
Immer wieder werden neue MS-Medikamente von Meinungsführern der Neurologen-Szene bereits vor der Zulassung angekündigt mit dem Ziel, Betroffenen schon mal „den Mund wässrig“ zu machen. Man erinnere sich nur an Daclizumab (Zinbryta®), das im Vorfeld von einigen Neurologen in den Himmel gelobt wurde und später dann vom Markt genommen werden musste.[1]Deutsche Gesellschaft für Neurologie: „Multiple Sklerose: Daclizumab HYP halbiert die Wahrscheinlichkeit von Schüben“, in: … Weiterlesen Vor kurzem wurden von Prof. Mäurer in seinem DocBlog Vorschusslorbeeren in einem besonders frühen Entwicklungsstadium einer neuen Substanzklasse verteilt: den Brutontyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi).[2]MS-Docblog: „Zukunft der MS-Therapie? – Neues zu BTK-Inhibitoren“, in: https://www.ms-docblog.de/multiple-sklerose/zukunft-der-ms-therapie-neues-zu-btk-inhibitoren/, 04.05.2020 [23.05.2020]. Zur Zeit entwickeln gleich mehrere pharmazeutische Hersteller verschiedene Varianten davon, diese sollen für das gewinnträchtige Spektrum immunvermittelter Erkrankungen, also auch der Multiplen Sklerose, getestet werden.
Welche Rolle spielt die Brutontyrosinkinase im menschlichen Körper und was könnten erhoffte Wirkungen sein, wenn man diese mittels BTKi hemmt? Grundsätzlich sind Brutontysonkinasen an der Aktivierung sowohl von B-Lymphozyten als auch von so genannten myeloischen Zellen des Immunsystems beteiligt, zu denen die Mikroglia-Zellen des zentralen Nervensystems gehören. Beide Zelltypen sind, neben den T-Lymphozyten, in aktiviertem Zustand an der Entstehung der MS beteiligt. Während B-Lymphozyten vor allem in entzündlichen Läsionen bei der schubförmigen Verlaufsform vorkommen, dominieren bei den progredienten Verlaufsformen die aktivierten Mikrogliazellen. Alle bislang verfügbaren Immuntherapeutika können über ihre verschiedenen Wirkmechanismen ausschließlich die entzündliche Krankheitskomponente hemmen, durch die Behinderung oder Verminderung von T- bzw. B-Lymphozyten. Die Klasse der BTKi würde jedoch möglicherweise über die Hemmung der Mikroglia-Aktivierung auch die neurodegenerative Komponente der progredienten Verlaufsformen beeinflussen können. Interessant ist diese Möglichkeit durchaus, und sicherlich ist die Entwicklung und Untersuchung dieser Substanzklasse begründet.
Wie damals bei Daclizumab wird auch hier eine mögliche breitere Wirksamkeit bei angeblich geringeren Nebenwirkungen in Aussicht gestellt; dabei gibt es bis jetzt allerdings kaum Daten. Nur zu einer dieser Substanzen, Evobrutinib, ist überhaupt schon eine klinische Studie veröffentlicht: Studiendauer insgesamt ein Jahr, primäres Ziel die Reduktion der MRT-Aktivität.[3]X. Montalban et al.: Placebo-Controlled Trial of an Oral BTK Inhibitor in Multiple Sclerosis. In: The New England Journal of Medicine, 2019; 380, S. 2406-2417. Zu einer anderen Studie mit gleicher Zielsetzung, die lediglich über 16 Wochen lief, existiert nur eine Pressemitteilung.[4]Sanofi: „Sanofi brain-penetrant BTK inhibitor significantly reduced disease activity in Phase 2 trial in relapsing multiple sclerosis“, in: … Weiterlesen Im Docblog-Beitrag zu BTKi beschreibt Prof. Mäurer zuerst sehr ausführlich den Wirkmechanismus der bereits zugelassenen B-Zell-zerstörenden Therapien, insbesondere Ocrelizumab (Ocrevus®), um sich dann bei den behaupteten Vorteilen der neuen Substanzklasse eher kurz zu fassen. Demnach würden die BTKi lediglich die Funktion der B-Zellen beeinträchtigen, ohne deren Zahl zu reduzieren. Wobei der Unterschied, ob man funktionsunfähige B-Zellen oder gar keine B-Zellen hat, wohl eher akademisch zu nennen ist. In beiden Fällen entsteht nach und nach ein Antikörpermangelsyndrom. Es gibt sogar eine entsprechende Erbkrankheit mit Brutontyrosinkinase-Mutation, das Bruton-Syndrom[5]Wikipedia: „Bruton-Syndrom“, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Bruton-Syndrom, o.J. [23.05.2020]., das mit BTKi quasi künstlich erzeugt wird.
Durch die frühe Ankündigung wird der Tag noch vor dem Abend gelobt. Man folgt offenbar dem bewährten Marketing-Konzept, lange vor der Verfügbarkeit eine hohe Erwartungshaltung zu schaffen. Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht annähernd ausreichende Studiendaten, und schon gar nicht genügend Sicherheitsdaten, als dass es seriös wäre, Betroffene jetzt schon zu informieren. Denn niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt vorhersagen, ob nicht noch schwere Spätfolgen ans Licht kommen werden, wie wir es mit Daclizumab tragisch erleben mussten.[6]Jutta Scheiderbauer: „Goldrausch oder: die Daclizumab-Katastrophe“, in: https://ms-stiftung-trier.de//goldrausch-oder-die-daclizumab-katastrophe/, 22.06.2018 [23.05.2020].
Sagen Rückenmarksherde einen schlechten Verlauf voraus?
Häufig wird uns in Beratungsgesprächen von Neuerkrankten berichtet, dass, weil in der MRT des Rückenmarks Herde sichtbar waren, ihnen ein schlechter Verlauf vorhergesagt wurde. Manchen wird gar schnelle Rollstuhlpflichtigkeit angekündigt, selbst wenn sie gar keine Beschwerden haben. Die Herde im Rückenmark werden dann grundsätzlich als Argument für die schnelle Einleitung einer Immuntherapie oder die schnelle Eskalation hin zu stärkeren Präparaten mit höheren Nebenwirkungsrisiken verwendet. Diese bedrohlichen prognostischen Aussagen werden gerne mit dem nur scheinbar plausiblen Schluss untermauert, dass Rückenmarksherde gefährlicher sind als Herde im Großhirn, weil im Rückenmark „nicht so viel Platz“ ist. Unsere Literaturrecherche führte nur zu wenigen Arbeiten, die frühe Rückenmarksherde als Risikofaktor für einen späteren Übergang in die sekundär progrediente Verlaufsform oder einen späteren höheren Behinderungsgrad zu belegen scheinen, aber der Teufel steckt da meist im Detail der Dateninterpretation. Also wie sieht die Datengrundlage genau aus?
Eine Kohortenstudie scheint frühe Rückenmarksläsionen als einen negativen prognostischen Faktor bei MS nachzuweisen.[7]WJ. Brownlee et al.: „Early imaging predictors of long-term outcomes in relapse-onset multiple sclerosis.“ In: BRAIN 2019: 142, S. 2276–2287. De facto wurde allerdings kein Patientenkollektiv von MS-Betroffenen, sondern von 164 Betroffenen mit einem Klinisch Isolierten Syndrom (KIS) untersucht, also von Patienten, die die Diagnosekriterien für Multiple Sklerose eben noch gar nicht erfüllten. Von diesen wiesen 134 (82%) eine Sehnerventzündung auf, 19 (11,4%) Läsionen im Hirnstamm, 10 (6%) Läsionen im Rückenmark und nur 1 (0,6%) Läsionen in den Großhirnhälften. Dies waren also keine Patienten mit typischen MS-Befunden, und bekanntermaßen sind die Verläufe besonders günstig, wenn eine Sehnerventzündung die Erstmanifestation ist, selbst wenn es zu einem späteren Übergang vom KIS zur MS kommen sollte. Dagegen sind Betroffene mit Läsionen in den Großhirnhälften hier gar nicht untersucht worden, obwohl sie in der Realität der MS-Betroffenen die überwiegende Mehrheit der Erkrankten stellen. Und üblicherweise weisen MS-Betroffene nicht nur MRT-Befunde in einer der genannten Regionen des zentralen Nervensystems auf, sondern in mehreren. Kurz gesagt, diese Untersuchung ist nicht repräsentativ für MS-Betroffene und lässt deshalb keine Schlussfolgerung auf die prognostische Wertigkeit von Rückenmarksläsionen bei MS zu.
Eine andere Arbeit behauptet, dass asymptomatische Rückenmarksläsionen einen späteren schlechteren MS-Verlauf vorhersagen würden.[8]C. Zecca et al.: „Relevance of asymptomatic spinal MRI lesions in patients with multiple sclerosis.“ In: Multiple Sclerosis Journal 2016, Vol. 22(6), S. 782–791. Hier wurde das Schubrisiko in einer Kohorte von 423 MS-Betroffenen über einen Zeitraum von mindestens 24 Monaten bestimmt, wenn in den 12 bis 36 Monaten vorher asymptomatische Läsionen, also Läsionen ohne begleitende neurologische Symptome, in der MRT von Gehirn und/oder Rückenmark aufgetreten waren. Das Schubrisiko war erhöht für Patienten, die entweder asymptomatische Rückenmarksherde oder asymptomatische Herde im Gehirn oder beides gehabt hatten, aber nicht für Patienten, die überhaupt keine asymptomatischen Läsionen aufwiesen. Kein Unterschied bestand dagegen bei der Behinderungsprogression. Die Studie hatte also keineswegs ein spezielles Schubrisiko durch Rückenmarksherde nachgewiesen, sondern ein allgemeines Schubrisiko durch neu hinzugekommene Herde im gesamten zentralen Nervensystem. Und sie hatte ergeben, dass solche asymptomatischen Herde sich nicht in einer späteren Behinderungsprogression niedergeschlagen haben.
Man hat leider bei diesem Thema wieder einmal das Gefühl, dass in Veröffentlichungen zur MS lieber unzulässige als ehrliche Schlussfolgerungen gezogen werden, und das zu Lasten der Betroffenen, die unnötigerweise in Angst und Schrecken versetzt werden.
Jutta Scheiderbauer
Quellen
↑1 | Deutsche Gesellschaft für Neurologie: „Multiple Sklerose: Daclizumab HYP halbiert die Wahrscheinlichkeit von Schüben“, in: https://www.dgn.org/presse/pressemitteilungen/2489-multiple-sklerose-daclizumab-hyp-halbiert-die-wahrscheinlichkeit-von-schueben, 04.04.2013 [23.05.2020]. |
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↑2 | MS-Docblog: „Zukunft der MS-Therapie? – Neues zu BTK-Inhibitoren“, in: https://www.ms-docblog.de/multiple-sklerose/zukunft-der-ms-therapie-neues-zu-btk-inhibitoren/, 04.05.2020 [23.05.2020]. |
↑3 | X. Montalban et al.: Placebo-Controlled Trial of an Oral BTK Inhibitor in Multiple Sclerosis. In: The New England Journal of Medicine, 2019; 380, S. 2406-2417. |
↑4 | Sanofi: „Sanofi brain-penetrant BTK inhibitor significantly reduced disease activity in Phase 2 trial in relapsing multiple sclerosis“, in: https://www.sanofi.com/en/media-room/press-releases/2020/2020-04-23-07-00-00, 23.04.2020 [23.05.2020]. |
↑5 | Wikipedia: „Bruton-Syndrom“, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Bruton-Syndrom, o.J. [23.05.2020]. |
↑6 | Jutta Scheiderbauer: „Goldrausch oder: die Daclizumab-Katastrophe“, in: https://ms-stiftung-trier.de//goldrausch-oder-die-daclizumab-katastrophe/, 22.06.2018 [23.05.2020]. |
↑7 | WJ. Brownlee et al.: „Early imaging predictors of long-term outcomes in relapse-onset multiple sclerosis.“ In: BRAIN 2019: 142, S. 2276–2287. |
↑8 | C. Zecca et al.: „Relevance of asymptomatic spinal MRI lesions in patients with multiple sclerosis.“ In: Multiple Sclerosis Journal 2016, Vol. 22(6), S. 782–791. |