Leserbrief zu „Jenseits von Kortison“ von Michael Brendler, FAZ, 02.12.16

Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (EBM-Netzwerk) hat Herrn Brendler noch im Frühjahr 2016 für einen Artikel ausgezeichnet, der „in herausragender Weise zeig[e], wie sich die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin im Medizinjournalismus umsetzen lassen“. Davon ist er in diesem Artikel zur MS-Therapie nun recht weit entfernt.

So stehen Versprechungen (Tysabri als „Wundermittel“, ein Arzt, der glaubt, die MS „stoppen“ zu können und ein „normales Leben“ garantiert) neben Bedrohungsszenarien (die MS schreitet voran, „bis das Gehirn schrumpft und der Patient im Rollstuhl sitzt“). Es folgen die Standardvermutungen, MS habe etwas mit dem Rauchen oder „salzreicher Kost“ zu tun. Beides konnte bisher keine Studie belegen. Falsche und irreführende Angaben wurden einfach übernommen: Neue Entzündungsherde machen eine Therapie notwendig? Es gibt keinerlei wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass das Auftreten von neuen Läsionen oder deren Anzahl ohne gleichzeitige klinische Symptomatik im Krankheitsverlauf überhaupt relevant wären. Die „Wunderwaffe Daclizumab“, ein Medikament, das dem Körper etwas „zurückgibt“? Nun, außer einer bescheidenen Wirkung erhält man vor allem sehr häufig eine Leberschädigung und schwere Hautreaktionen. Und Studien sollen belegen, dass Alemtuzumab „sechs Jahre lang für Ruhe sorgt“. Wie soll das funktionieren, wenn es nur in einem Teil aller Fälle überhaupt eine Wirkung zeigt? Zu guter Letzt wird endlich gesagt, worum es wirklich geht: hit hard and early, d.h. Therapie muss sein, vor allem muss sie „früh genug begonnen“ werden. Aber auch dafür gibt es keine überzeugenden Belege, es ist nicht nachgewiesen, dass eine frühe Therapie nach dem Gießkannenprinzip langfristig Behinderungen erspart.

Schwer zu sagen, wer nun mehr zu bedauern ist, das EBM-Netzwerk, weil Herr Brendel so schnell so gründlich vergessen zu haben scheint, was die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin im Medizinjournalismus sind. Oder die FAZ, die hier einen Artikel veröffentlicht hat, der das Niveau einer Pressemitteilung der Pharmaindustrie hat und eines Prestige-Mediums nicht würdig ist. Vor allem zu bedauern sind die MS-Betroffenen und deren Angehörigen, denen einmal mehr, durch schlecht recherchierte Informationen, Druck und Angst gemacht wird, sich im Sinne der Pharmaindustrie zu verhalten. Nämlich kritiklos eine immer risikoreichere Medikation mitzutragen.

von Nathalie Beßler, Christiane Jung und Jutta Scheiderbauer

3 Kommentare

  1. edithelfriede

    Über die MSlerin die mir so sehr Mitox emohlolen hatte könnte ich sagen das sie keine MS Eskakationstherapie gebraucht hätte denn an Ihr waren für mich keine Behinderungen erkennbar.

    Das jemand diese Mittel überleben kann steht damit für mich genauso fest wie das es mir nichts genutzt hat.

    Einen klar erkennbaren Schub hatte ich nach sechs oder sieben mal Mitox nachdem ich schon gravierende Herzschäden davon hatte.
    Mein Kardiologe stellte dieses Jahr fest das dem nicht so wäre aber Mediziner sind nicht da wenn mein Herz rast oder meine Beine zu Boden gehen.

    Vegetarische oder vesser noch vegane Ernährung sowie Dronabinol bei Schmerzen und Spastiken sind heilsamer als jedes andere Mittel.
    lg e

  2. Wolfgang Weihe

    Liebes TAG-Team,

    ihr Leserbrief entspricht genau meiner Meinung. Ich war von Herrn Brendlers undifferenziertem Artikel so schockiert, dass ich gar nicht wusste, was ich sagen sollte. Aber sie haben es sehr gut formuliert.

    Gruß,
    Wolfgang Weihe

  3. Wie kann man nur so derart treffsicher auf diesen Artikel reagieren? Hut ab! Hervorragend! Ganz außerordentlich große Klasse!

    M.

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