Wenn man erfahren will, wie andere MS-Betroffene mit ihrer Erkrankung leben, welche (medizinischen) Entscheidungen sie getroffen haben und was geholfen hat, muss man dafür heute keine Selbsthilfegruppe mehr besuchen. Es gibt zum einen eine Vielzahl an Webseiten mit Foren und Gruppen, wo Betroffene ihre Geschichte erzählen. Zum anderen interessiert sich auch die Wissenschaft für diese Narrative und will sie für Betroffene und die Ärztinnenschaft verfügbar machen. Sind Berichte von MS-Betroffenen immer nützlich und lesenswert? Nathalie Beßler und Dorothea Jüster streiten.
Dorothea Jüster:
„Ja. Ich lese und höre sehr gerne Berichte von anderen MS-Betroffenen und es stört mich auch nicht, wenn diese einfach so heruntergeschrieben oder aufgezeichnet wurden, also ohne redaktionelle Überarbeitung. Denn so sind diese Geschichten authentisch. Oft inspirieren mich die Geschichten dazu, etwas Neues zu probieren, wie etwa eine andere Strategie oder Medikation. Ich finde es auch spannend, zu hören, wie es anderen MS-Betroffene gelungen ist, eine Krise zu überwinden. Und es tröstet mich, zu erfahren, wie schlecht sie sich in dieser Zeit der Krise gefühlt haben und wie schwierig diese Zeit war oder noch ist. Insbesondere, wenn ich gerade selbst eine Krise durchmache. Denn viel zu oft hat man doch das Gefühl, mit seinen Problemen allein zu sein.
Ich würde mir wünschen, dass solche Geschichten noch viel mehr in den Fokus von Informationen über die Multiple Sklerose rücken. Insbesondere Ärztinnen und Ärzte würden davon profitieren, wenn sie, neben dem medizinischen Fachwissen, auch wüssten, welchen großen Einfluss diese Erkrankung auf das Leben insgesamt hat, auf die Familie, den Beruf und die Selbstwahrnehmung. Und dass es mit der Verschreibung eines Medikaments einfach nicht getan ist.“
Nathalie Beßler:
„Nicht unbedingt. Vielleicht härtet man einfach auch ein bisschen ab, wenn man schon so viele Geschichten von MS-Betroffenen gehört oder gelesen hat. Aber bestimmte Krisen und Erfahrungen wiederholen sich immer in den Geschichten. Und nicht alle Betroffenen sind Erzähltalente. Beides macht das Lesen oder Zuhören anstrengend und der Informationsgewinn ist nicht hoch. Mich interessieren Geschichten, die aus der Reihe fallen, wo Betroffene und deren Familie besonders kreativ oder mutig eine Krise überwunden haben. Solche Geschichten gibt es aber nicht oft. Und in den Beratungen merkt man, dass Betroffene oft nur ein bestimmter Lebensabschnitt oder eine bestimmte Entscheidung interessiert. Und dafür hat die Wissenschaft, genauer, die Medizinsoziologie, eine gute Lösungen gefunden: Erfahrungsberichte von Betroffenen werden aufgezeichnet und dann bereitgestellt, aber nicht komplett, sondern nach Themen und Zeiträumen sortiert. So kann man, z.B., nur den Abschnitt zu Erfahrungen mit bestimmten Symptomen oder nur Berichte von Betroffenen einer bestimmten Altersgruppe anhören oder lesen, weil eben das gerade interessant ist. Für den deutschsprachigen Raum müssen wir allerdings aktuell noch auf so eine Datenbank warten.“