Film mit Risiken und Nebenwirkungen

Der von den deutschen und schweizerischen Multiple-Sklerose-Gesellschaften, viel gelobte und beworbene Film „Multiple Schicksale. Der Kampf um den eigenen Körper“ des jungen Filmemachers Jann Kessler, ist kein Filmvergnügen. Und das liegt nicht an den gezeigten Schicksalen oder dem im Film zu sehenden Suizid. Nein, es sind die Auslassungen und Falschaussagen, die unkommentiert stehen gelassen werden, und die Oberflächlichkeit, mit der das Thema Suizid abgehandelt wird, die es leidvoll machen, den Film zu schauen.Vier der sieben gezeigten MS-Betroffenen im Film sind bettlägerig oder auf einen Rollstuhl angewiesen. Oft stehen Ängste („Wer will schon mit jemanden zusammen sein, der nichts mehr unternehmen kann“), Verzweiflung („vielleicht hat man irgendwann auch einfach keine Tränen mehr zum weinen“) und die Frage nach Suizid als „Ausweg“ im Zentrum der Geschichte. Per se wäre das kein Problem, denn Verzweiflung und Angst sind, gerade aus der Phase kurz nach der Diagnosestellung, wohl allen MS-Betroffenen bekannt. Problematisch ist das, was nicht erzählt wird. So suggeriert der Film einen zwangsläufigen körperlichen Verfall. Gute Verläufe, MS-Betroffene mit stabilen Krankheitsphasen oder Personen, bei denen sich Symptome wieder zurückgebildet haben, finden sich kaum. Das auch das bei MS möglich ist, zeigt der Film nur bei genau einem von sieben Betroffenen, alle anderen sind teils stark beeinträchtigt und nur unzureichend fähig, am sozialen und beruflichen Leben teilzunehmen. Im Kopf der uninformierten Zuschauer*innen wird MS damit zu einer Erkrankung, die zwangsläufig die Gehfähigkeit und, im weiteren Verlauf, die gesamte Lebensqualität maßgeblich und dauerhaft beeinträchtigt. Die damit erzeugte Angst behindert nicht nur die Krankheitsverarbeitung, sondern zementiert bereits vorhandene Vorurteile nur noch weiter.

Falschaussagen lässt der Film einfach stehen. So ist die Protagonistin Luana davon überzeugt, dass sie ohne Medikamente sehr wahrscheinlich wieder einen Schub bekommen wird. Dies ist, in dem sonst so spärlich über Therapieoptionen berichtenden Film, eine Information, die noch mehr Druck auf Betroffene ausübt, sich auf eine Medikation einzulassen, die überhaupt nur einem Teil der Betroffenen hilft. Besonders problematisch ist die Darstellung des Selbstmordes, der einseitig positiv besetzt wird. Negative Gefühle beim Betroffenen selbst oder seinen Angehörigen werden kaum, die Folgen dieser Entscheidung gar nicht thematisiert. Dabei hätte Rainers inadäquates Lachen bei der Aussage, er habe keine Angst vor dem Tod, genauso wie seine Schuldgefühle („wenn ich noch bleiben würde, wäre ich nur noch mehr eine größere Belastung“), einen guten Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Motiven für den Selbstmord bieten können. Negative Gefühle wie Verzweiflung, Einsamkeit und vielleicht auch Wut über das Geschehene finden kaum oder keinen Platz in der Dokumentation, stattdessen werden nur Aussagen gezeigt, die vermitteln, wie stark und abgeklärt die Angehörigen sind. So sagt eine seiner Töchter nach seinem Suizid: „Da ist auch Trauer, aber das Gefühl der Erleichterung ist größer. Das gibt einem so viel Kraft.“ Aus der Trauerforschung wissen wir aber, dass Menschen kurz nach dem Tod eines Angehörigen kaum in der Lage sind, das Geschehene adäquat zu verarbeiten, erst nach einiger Zeit wird es möglich, in Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu kommen und das Erlebte für sich einzuordnen. Indem der Film uns diese Phase vorenthält und nur einseitig Motive beleuchtet, vermittelt er eine gefährliche Botschaft, nämlich dass Suizid nicht nur für diesen MS-Betroffenen und seine Angehörigen leicht ist, sondern vielleicht auch für andere MS-Betroffene eine einfache Lösung sein könnte.

Christiane Jung, Nathalie Beßler und Jutta Scheiderbauer

Foto: Denise Jans on Unsplash

4 Kommentare

  1. Wolfgang Weihe

    Ich möchte kein Hehl daraus machen, dass ich ihre Besprechung für großartig halte. Jann Kessler zeichnet an 7 Beispielen genau das Bild von der MS, das immer noch in vielen Köpfen herumspukt. Ich glaube nicht, dass man dem jungen Regisseur einen Vorwurf daraus machen kann, aber ich halte den Film für abschreckend – und für nicht empfehlenswert. Man kann lügen, indem man etwas zu rosarot färbt, aber man kann auch mit Kohlpechrabenschwarz lügen.

    Wolfgang Weihe

  2. Liebe Damen,

    ich hatte unlängst Jann angeschrieben. Ich wollte von ihm wissen, für welche Zielgruppe sein Film gedacht ist. Denn eurer Einschätzung schließe ich mich an. Ich halte mich lediglich aus dem Thema der Sterbehilfe heraus. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, nicht mehr leben zu wollen.

    Da Jann den Film einem breiten Publikum mittels Kinovorführung zur Verfügung stellt, muss es in meiner Wahrnehmung dafür eine Zielgruppe geben. Diese hätte ich gern erfahren.

    Ich habe leider bis heute noch keine Antwort. Aber vllt ist meine Frage auch gar nicht beantwortbar.

    Ich kenne aus meinem MS-Umfeld (u das ist nicht sooo klein) niemanden, der sich diesen Film ansehen mag. Umso schlimmer stelle ich mir vor, wie es sein muss, wenn Angehörige oder Unbeteiligte ihn sehen. Die Stigmatisierung einer unheilbaren u kapital furchtbaren Krankheit MS wird damit seinen Lauf nehmen. Das ist bedauerlich. U für mich fast unerträglich.

    L. G. M.

  3. Ich, 24 Jahre PPSMS mit EDSS 9 davon die ersten15 Jahre EDSS 1.
    Klasse Film,auch im 21 Jahrhundert ist die MS nicht behandelbar.
    Steffen

  4. dieser film ist eine maturarbeit.
    eine medizinische aussage wurde nicht gemacht und war nicht ziel des filmes. da wurde das schicksal seiner mutter -damit irgendwie auch seins- und das noch einiger pat. gezeigt.

    jann kessler hat diesen film nicht gemacht, um tag trier zu gefallen. es war die abschlussarbeit fürs gymnasium.

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