Gastbeitrag: Fragwürdige Online-Kongresse

Nicht erst seit Corona sind digital veranstaltete Kongresse beliebt. Die Inhalte sind teils gesundheitsgefährlich – und die Anbieter arbeiten mit problematischen Marketing-Tricks.

„Guten Morgen und einen wunderbaren Start ins Wochenende!“ begrüßt mich „meine Susann“. Gemeinsam mit mir möchte sie in den Endspurt des „Autoimmun Online Kongresses“ gehen. Noch bis Montag 10 Uhr sei noch Zeit, sich „ganz viel neues Wissen zur ursächlichen Behandlung meiner Autoimmunerkrankung(en)“ anzueignen. Dann endet das Kongresspaketangebot für nur 57 Euro statt 197 Euro. Seit neun Tagen werde ich jeden Morgen von „meiner Susann“ begrüßt und manchmal schreibt sie mir auch noch mal am Abend. Sie jubelt, der Auftakt des Kongresses sei super gelaufen. Dass es soooo viele Fragen aus der Community gebe. Die Resonanz auf Facebook sei überwältigend gewesen. Das System bleibt immer das gleiche. Die Macher des Kongresses laden mich natürlich zur Folgeveranstaltung ein. Es geht um „Entgiftung“, dem folgt ein „Schuppenflechte-Onlinekongress“, im April kommt einer zu Corona. Wer sich für die Onlineveranstaltungen anmeldet, kann gern zuschauen und zuhören; wer die Videos und Beiträge langfristig haben möchte, muss zahlen. All diese Veranstaltungen sind wissenschaftlich äußerst fragwürdig. Wer aber steckt eigentlich hinter den Onlinekongressen? Welche Ärzt*innen, Heilpraktiker*innen und Gesundheits-Coaches senden ihre Videobotschaften an ein zahlungswilliges Publikum? Wir haben uns das Geschäft mit der Online-Gesundheit einmal genauer angesehen.

Keine Angaben zur Qualifikation der Sprecher

Beim „Autoimmun Kongress“ haben die Veranstalter sich Krankheiten herausgesucht, bei denen das Immunsystem zu stark auf körpereigene Stoffe reagiert. So etwa bei Schuppenflechte, rheumatoider Arthritis oder Multiple Sklerose. Viele Autoimmunerkrankungen sind bislang nur unzureichend verstanden und nicht therapierbar. Oft bleibt die Krankheit lebenslang bestehen, ist schmerzhaft und für den Menschen stark belastend bis gesundheitsgefährlich.

Für alles dies präsentiert der Gesundheitskongress einen Mix von Empfehlungen, aus denen sich die MS-Patientin genauso etwas ableiten soll wie eine Frau mit Schuppenflechte, wundert sich die Wissenschaftsjournalistin Claudia Liebram. „Auf der Internetseite zu den Kongressen sind kaum Angaben zur Qualifikation der Speaker zu finden, das würde ich bei solchen großen Themen eigentlich erwarten.“ Die meisten der auftretenden Experten seien abseits der wissenschaftlich etablierten Medizin unterwegs, es sprechen etwa oft Ernährungsberater mit Berufsbezeichnungen, die nicht geschützt sind, die also jeder verwenden kann, erklärt Liebram. „Es gibt auch Heilpraktiker und Ärzte unter den Dozenten, die nur in Privatpraxen behandeln.“ Unter den 25 angekündigten „Top-Experten Deutschlands“ des „Autoimmun Kongresses“ finden sich tatsächlich einige Heilpraktiker*innen. Dazu kommen ein „ganzheitlicher Abnehmcoach“, Ärzt*innen und ein „Ernährungs- und Lifestyle-Experte“. Auch dabei ist Anja Leitz – sie ist nichts von alledem, sie besitzt ein Hotel. Laut Kongress spricht sie aber über „Biohacking – Durch Licht und chronobiologische Optimierung zurück zur Gesundheit“. Ihre medizinische Qualifikation ist nicht angegeben. Im Netz wirbt sie damit, dass sie das „einzige Biohacking“-Hotel Europas betreibt, wo sie ihren Gästen stets das richtige Umfeld zur Genesung biete. 

Vitamin D für alle

An Tag vier hielt bereits ein weiterer in der Szene bekannter Redner einen Vortrag: Jörg Spitz, der als die „absolute Vitamin D Koryphäe Deutschlands“ angekündigt wurde. In seinem Vortrag erklärte er, „weshalb das Sonnenvitamin sowohl Grundlage zur Prävention als auch zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen ist“. Dies ist auch Thema vieler seiner Bücher, als selbsternannter „hochinfektiöser Gesundheitserreger“ kalauert er sich regelmäßig durch kleinere und größere Veranstaltungssäle. Auf der Internetseite einer Akademie für „menschliche Medizin“ veröffentlicht er regelmäßig selbstgedrehte Clips und Videos. Dass Spitz eigentlich ein emeritierter Nuklearmediziner und offenbar kein Ernährungsspezialist ist, stört offenbar niemanden. Genauso wenig, dass er für jedermann gern die Einnahme von Vitamin D empfiehlt. Nach Ansicht von Experten nehmen die Menschen aber bereits ausreichende Mengen des Vitamins über die Nahrung und durch das Tageslicht zu sich, nur spezielle Gruppen mit bestätigtem Vitaminmangel sollten Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen. Eine andauernde Überdosierung mit Vitamin-D-Präparaten, die eine Dosis von über 100 Mikrogramm pro Tag enthalten, kann unerwünschte Nebenwirkungen wie Nierensteine oder Nierenverkalkungen hervorrufen. 

Passend zu Spitz sprach am vierten Kongresstag auf dem „Autoimmun Kongress“ auch Christina Kiening über das sogenannte Coimbra-Protokoll. Bei dieser Therapie werden nicht nur hohe, sondern sehr hohe – Kiening nennt es „supraphysiologische Dosen Vitamin D“ – gegeben: Das soll angeblich Autoimmunerkrankungen stoppen. Einige Menschen mit Multiple Sklerose setzen viel Hoffnung auf das „Coimbra-Protokoll“. Christina Kiening ist davon überzeugt, sie selbst gründete im Sommer 2019 die offenbar als gemeinnützig anerkannte Unternehmergesellschaft „Coimbraprotokoll UG“, „um dem Coimbraprotokoll in Deutschland eine professionelle Stimme zu verleihen. Wir sind zwei Patientinnen mit Multipler Sklerose, die durch das Coimbraprotokoll ins Leben zurückgefunden haben. (…) Uns liegt am Herzen, dass möglichst viele Patienten mit Autoimmunerkrankungen die gleiche Chance bekommen wie wir selbst: Die Chance auf einen Stopp der Erkrankung und eventuell noch eine teilweise Heilung.“ „Wissenschaftlich ist nicht bewiesen, ob und wie das Coimbra-Protokoll hilft“, sagt Peter Flachenecker. Er ist Chefarzt eines auf Multiple Sklerose (MS) spezialisierten neurologischen Rehabilitationszentrums. „Was hochdosiertes Vitamin D bewirkt, wenn man bereits an MS erkrankt ist, das ist bisher nicht klar. Es sind zwar Studien auf dem Weg, diese sind aber entweder noch nicht abgeschlossen oder haben diesbezüglich ein negatives Ergebnis gehabt wie beispielsweise die großangelegte SOLAR-Studie.“ Das Robert Koch-Institut warnt: Bei einer übermäßig hohen Einnahme von Vitamin D entstünden im Körper erhöhte Kalziumspiegel, die akut zu Übelkeit, Appetitlosigkeit, Bauchkrämpfen, Erbrechen oder in schweren Fällen zu Nierenschädigung, Herzrhythmusstörungen, Bewusstlosigkeit und Tod führen können.

Im Universum der Gesundheitskongresse

Zwischenfazit: Verlässlich und evidenzbasiert ist vieles von dem, was die Sprecher des „Autoimmun Kongress“ berichten, nicht. Das Prinzip der Kongresse wird allerdings stets fortgeführt: Wer einmal im Universum der Onlinegesundheitskongresse gelandet ist, dem werden fortlaufen Informationen über weitere Krankheiten und Aktionen angeboten. Laut Impressum steht die „Salutem Solutions OHG“ dahinter – ehemals „Benedens, Goldau, Goldau, Seelhorst GBR“ mit Sitz in Berlin. 

Die Unternehmer sind durchaus aktiv: Nach dem „Autoimmun Kongress“ (November bis Dezember 2019) gab es den Entgiftungs-Kongress (Januar 2020), einem Schuppenflechte-Onlinekongress (Februar), einen Hashimoto-Kongress (Februar 2020). Zwischendurch veranstaltete Medumio eine „Vitamin D-Kampagne“, bei der zum Kauf des Jahresvorrats des Vitamins aufgerufen wurde. Es folgte ein Migräne-Kongress (März 2020), ein „Krebskongress“ (Februar 2020), natürlich auch einer zu Corona (April 2020), im Juni einer zum „Gesunden Schlaf“, im August dann der „Keto“-Kongress. 

Die Macher der Kongresse würden immer professioneller: „Sie setzten geschickt Krankheitsthemen dort, wo sie viele Leute erreichten“, sagt Claudia Liebram. „Die Veranstalter denken offenbar: Wenn einer erstmal auf einer Kongress-Webseite ein solches Paket heruntergeladen und angehört hat, also den Experten bei einem Vortrag gefolgt ist, dann ist der auch empfänglich, mehr zu kaufen oder in eine Privatpraxis zu gehen.“ Die Menschen würden dabei einseitig informiert: „Es werden Methoden, Therapien abseits der Medizin propagiert, alles aus einem alternativen, esoterischen Bereich, der kaum oder gar nicht kontrolliert wird.“ Den Teilnehmenden würden Bedürfnisse eingeredet nach irgendwelchen Nahrungsergänzungsmitteln oder Therapien, die zu oft reine Phantasieprodukte seien. Wenn sie möchten, können Besucher fortlaufend im Universum der Onlinegesundheitskongresse verbleiben, nach einiger Zeit werden sie per Mail gefragt, ob sie auch „Botschafter“ eines Kongresses werden möchten. 

Auch einzelne Redner begegnen dem Zuhörer der Kongresse immer wieder. So etwa Jörg Spitz. Der durfte nicht nur auf dem „Autoimmun Kongress“ im vergangenen Dezember sprechen, später hört man ihn auch auf dem „Krebskongress“. Hier erzählt er am 28. Februar 2020 zunächst, dass er zwar ein emeritierter Nuklearmediziner sei, aber danach „durch Lesen alles über Prävention herausgefunden habe“. Er habe aufgrund der „neuesten Forschungsergebnisse ein ganzheitliches Grundkonzept entwickelt, Krankheiten nicht nur zu verhindern, sondern zu behandeln“, behauptet er. Seine Überlegungen führen dann im weiteren Verlauf zu gesundheitsgefährlichen Aussagen wie dieser, dass es nicht nötig sei, Krebs herauszuschneiden, denn wenn man den Körper wieder richtig ernähre, „dann ist dieser Spuk vorbei“. Auch sagt Spitz, Vitamin D würde den Krebs in Schach halten – eine Aussage, die durch mehrere große wissenschaftliche Studien widerlegt wurde. 

Fragen zum Geschäftsmodell werden nicht beantwortet

Was ist eigentlich die Qualifikation von Benedens, Goldau, Goldau und Seelhorst, derartige Kongresse zu schweren Erkrankungen der Menschen zu veranstalten? Wir fragen schriftlich bei der „Salutem Solutions OHG“ an und erkundigen uns, wie die Qualitätssicherung erfolgt, wie Interessenkonflikte unterbunden werden, oder wie sichergestellt wird, dass es eine Trennung zwischen dem kommerziellen Handel mit Nahrungsergänzungsmitteln und neutralem Info-Angebot gibt. „Salutem Solutions“ beantwortete unsere Fragen nicht. Im Impressum ist als Vertretung eine Anwaltskanzlei angegeben. Wir fragen dort nach – und erhalten durch Nadia Schwirtzek, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht, eine wenig freundliche Antwort: Sie wolle sich erst „ein Bild von der Qualität unserer Fragen“ machen. Wir erklären, dass „Salutem Solutions“ die Fragen ja bereits vorliegen – daraufhin erfolgt die endgültige Absage: „Wir erteilen Ihnen keine Auskünfte“, schreibt Schwirtzek. „Bitte nehmen Sie von weiteren Anfragen Abstand.“ Die Anwältin ist übrigens Gastgeberin des „Krebskongresses“ des Medimo-Teams. Freundlich begrüßt sie die Teilnehmer, wie auch die „Botschafter“ des Affiliate-Systems. Man rechne mit 7.000 bis 15.000 Teilnehmern und mindestens 30.000 Euro Umsatz. Fragt sich nur: Für wen. 

Nicola Kuhrt
Nicola Kuhrt ist Medizinjournalistin und zusammen mit ihrem Kollegen Hinnerk Feldwisch-Drentrup Gründerin sowie Chefredakteurin von MedWatch. Dieser Artikel ist eine gekürzte Version und durfte mit Erlaubnis der Autorin nachgedruckt werden. Der Originalartikel findet sich hier: https://medwatch.de/2020/08/26/wie-online-kongresse-geld-mit-fragwuerdigen-inhalten-machen/ (09.12.2020).

Foto: GruppoPiù/ Unsplash