Alles Verbrecher?

Wer Neurologen beeinflusst und warum der schlechte Ruf selbst mitverschuldet ist.

Angst ist es, die Betroffene und deren Angehörige in unsere Informationsstelle führt. Angst vor gesundheitlichen Schäden, wenn man nach Diagnosestellung „nicht schnell genug“ mit einem Präparat beginnt, Angst vor neuen Krankheitsschüben, wenn man sich für eine Medikamentenpause entscheidet oder Angst vor einem schlechten Krankheitsverlauf, wenn man sich, aus Sorge vor Nebenwirkungen, einer Eskalationstherapie verweigert. Wer sollte es auch nicht mit der Angst zu tun bekommen, wenn man mit Aussagen wie: „Wenn Sie mit dem Medikament aufhören, sitzen Sie in drei Jahren im Rollstuhl“ oder „Wollen Sie ihrer Familie das wirklich antun und ein Pflegefall werden?“ im Gespräch mit dem Arzt konfrontiert ist. In der Beratung ist es dann häufig unsere Aufgabe, den Betroffenen wissenschaftliche Zahlen und Fakten zu vermitteln. Beispielsweise, dass die Medikamente den Krankheitsverlauf langfristig nur minimal beeinflussen können. Wir verweisen auf Registerdaten, die zeigen, dass es auch ganz ohne Medikamente gute Verläufe gibt oder darauf, dass eine Behandlung nach MRT-Bildern keinen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung einer Behinderung hat. Mancher Betroffene ist fassungslos und fragt uns, warum der Arzt sie anlügt.

In Bertolt Brechts Werk „Das Leben des Galilei“ heißt es: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Wer die Wahrheit kennt und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“ Warum also diese Angstmacherei? Sind die Ärzte von der Pharmaindustrie bestochen? Werden wichtige Daten zurück gehalten? Die Wahrheit ist leider, wie so oft, kompliziert. Eine Suche nach Antworten.

Woher nehmen Ärzte ihre Informationen?

In der Medizin, wie auch in vielen anderen Wissenschaften, nimmt die Menge an verfügbarem Wissen fast täglich zu. Abertausende Artikel werden jedes Jahr veröffentlicht, kein Mensch kann heute den aktuellen Stand in seinem Arbeitsgebiet überblicken. Außerdem behandelt man als Arzt ja immer mehr als eine Krankheit; ein Neurologe beispielsweise muss sich nicht nur mit der Entstehung und Behandlung von MS auskennen, sondern auch mit Alzheimer, Parkinson, Epilepsie und noch vielen Erkrankungen mehr.

Fortbildungen

Um eine gute Behandlungsqualität zu gewährleisten, fordert die Ärztekammer ihre Mitglieder auf, regelmäßig an anerkannten Fortbildungen teilzunehmen. Dort fangen die Probleme schon an, denn viele der angebotenen Veranstaltungen werden von Pharmafirmen mit- oder komplett finanziert. Eine Analyse der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte (MEZIS e.V.) zeigt, dass bei Fortbildungen des führenden Anbieters Omniamed über  90% der ReferentInnen zuvor  Gelder von den Sponsoren, den Pharmafirmen erhalten hatten.[1]Pressemitteilung MEZIS: Zu viele Interessenkonflikte: Ärztekammer verweigert führendem Anbieter von Ärztefortbildungen erstmalig die Zertifizierung, URL: … Weiterlesen Für eine Tagesveranstaltung wurden von Pharmafirmen bis zu 200.000 Euro zugeschossen. Solches Sponsoring führt nachgewiesen zu schlechteren und zugunsten des Sponsors verzerrten Vorträgen. Hier wäre es Aufgabe der Landesärztekammern, den Anreiz für die Teilnahme an solchen Veranstaltungen zu verringern und nur noch für solche Veranstaltungen Fortbildungspunkte zu gewähren, die frei von Interessenskonflikten sind.

Pharmavertreter

15000 PharmavertreterInnen besuchen jedes Jahr 20 Millionen Mal Arztpraxen und Krankenhäuser.[2]C. Fischer: „Wes Brot ich ess’. Christiane Fischer* zum alltäglichen Lobbyismus in der ärztlichen Praxis“, in: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, 2016; 2, S. … Weiterlesen Durch Scheininformation, Geschenke oder Muster wird nachhaltig das ärztliche Verordnungsverhalten beeinflusst. Wie weitreichend solche Besuche sein können, zeigte beispielsweise die Studie, die die Wirkung eines Präparates gegen Hypercholesterinämie untersuchte.[3]Kastelein et al.: „Simvastatin with or without Ezitimibe in Familial Hypercholesterinemia“, in: NEJM, 2008; 358 (14), S. 1431–43. Nachdem die Werbung von PharmavertreterInnen intensiviert worden war, zeigte sich, dass, trotz objektiver Nachteile, ein Kombinationspräparat deutlich häufiger verordnet wurde als die wesentlich günstigere Monotherapie. Nicht nur hatten Patienten ein nebenwirkungsreicheres Medikament erhalten, es war auch, zu Lasten aller Versicherten, mehr Geld von den Kassen dafür ausgegeben worden.

Fachzeitschriften

Auch Fachzeitschriften bieten nicht immer nur sachliche Informationen, so finden sich darin auch immer wieder Einleger im Look wissenschaftlicher Publikationen.[4]MS Stiftung Trier: Werbeoffensive der Extraklasse, URL: https://ms-stiftung-trier.de/werbeoffensive-der-extraklasse/#more-267, 31.08.2016 (17.09.2018). Sie sind häufig so gestaltet, dass der Leser keinen Hinweis darauf findet, dass es sich eigentlich um Werbung pharmazeutischer Unternehmen handelt. Die geschönten Aussagen werden dann unweigerlich für neutrale Informationen gehalten.

Kongresse

Das zentrale Ereignis der deutschsprachigen Neurologie ist der jährlich stattfindende DGN Kongress.[5]T. Lempert et al.: „Warum die Deutsche Gesellschaft für Neurologie einen industrieunabhängigen Kongress braucht“, in: Akt Neurol., 2018; 45, S: 429–433, URL: … Weiterlesen Kaum eine andere Veranstaltung prägt stärker, wie und vor allem womit MS-Patienten behandelt werden. Die pharmazeutische Industrie ist dabei nicht nur omnipräsent durch ihre Messestände, Industriesymposien und Hospitality-Suiten, nein, sie zahlt auch noch vielfach für Reise- und Hotelkosten und trägt die mehrere hundert Euro teuren Kongressgebühren einzelner Teilnehmer. Selbst wer nicht direkt finanziell profitiert, der ist mit dem Problem konfrontiert, dass viele der auftretenden Referenten Interessenskonflikte aufweisen, also Geld für Vorträge erhalten. Oder es werden Mitarbeiter oder gleich ganze Studien von der pharmazeutischen Industrie mit- oder komplett finanziert. Wer so von einem pharmazeutischen Hersteller profitiert, wird sich natürlich schwer damit tun, sich über dessen Produkte negativ zu äußern.

Es gibt eine Menge Hindernisse für Ärzte, sich objektiv über MS zu informieren; überall sind sie der Einflussnahme Dritter ausgesetzt, die ihren eigenen Profit, aber nicht das Wohl der Patienten im Blick haben. Initiativen wie MEZIS zeigen, wie es anders geht und was dafür konkret unternommen werden müsste. Ausreden wie „Das ist zu teuer oder aufwendig“ greifen hier nicht, wer will, der kann. Andere Richtungen der Medizin machen es vor. Und sollten nicht etwas mehr Mühe und der Verlust von ein paar Bequemlichkeiten, wie bspw. die eines kostenfreien Mittagessens, das Wohl der eigenen Patienten wert sein? Wir denken schon.

Christiane Jung

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Quellen

Quellen
1 Pressemitteilung MEZIS: Zu viele Interessenkonflikte: Ärztekammer verweigert führendem Anbieter von Ärztefortbildungen erstmalig die Zertifizierung, URL: https://mezis.de/wp-content/uploads/2018/08/PM_05_MEZIS_Omniamed-final_070818.pdf, 07.08.2018 (17.09.2018).
2 C. Fischer: „Wes Brot ich ess’. Christiane Fischer* zum alltäglichen Lobbyismus in der ärztlichen Praxis“, in: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, 2016; 2, S. 6–8, URL: https://www.mezis.de/wp-content/uploads/2016/08/CFischer_GbP_16_2-Lobbyismus.pdf (19.08.2018).
3 Kastelein et al.: „Simvastatin with or without Ezitimibe in Familial Hypercholesterinemia“, in: NEJM, 2008; 358 (14), S. 1431–43.
4 MS Stiftung Trier: Werbeoffensive der Extraklasse, URL: https://ms-stiftung-trier.de/werbeoffensive-der-extraklasse/#more-267, 31.08.2016 (17.09.2018).
5 T. Lempert et al.: „Warum die Deutsche Gesellschaft für Neurologie einen industrieunabhängigen Kongress braucht“, in: Akt Neurol., 2018; 45, S: 429–433, URL: https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0584-5717.pdf.