Eine Forschergruppe unter Federführung der neurologischen Klinik der Universitätsmedizin Mainz hat die Ergebnisse zur Bestimmung der Neurofilament Leichtketten Proteine (NFL) im Blut von Studienteilnehmern der deutschen MS-Kohortenstudie[1]siehe: https://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de/forschung/klinische-studien-register/ms-kohortenstudie veröffentlicht.[2]siehe: https://medizin-aspekte.de/die-prognose-bei-multiple-sklerose-120174/ https://www.thelancet.com/pdfs/journals/ebiom/PIIS2352-3964(20)30182-1.pdf Die Kohortenstudie schloss 1000 Patienten, die zu Beginn der Studienteilnahme noch unbehandelt waren, ein und soll sie über mindestens 10 Jahre beobachten. Zusätzlich zum klinischen Verlauf wurden verschiedenen Begleitstudien initiiert, so auch die Bestimmung der NFL. NFL-Erhöhungen gelten als Nachweis eines Nervenzellschadens. Heraus kam, dass im Blut bei Betroffenen, die im weiteren Verlauf mit stärkeren Immuntherapien behandelt wurden, schon zu Beginn erhöhte Werte der NFL im Vergleich zu denjenigen, die schwächere Immuntherapien oder gar keine Immuntherapie bekamen, vorhanden gewesen waren. Die Höhe der NFL steht darüber hinaus mit der Läsionsanzahl in der MRT und mit der Schubrate in Zusammenhang. Die NFL-Werte gingen im zweijährigen Verlauf bei allen Betroffenen zurück, am deutlichsten aber bei denen, die mit stärkeren Immuntherapien behandelt wurden. Die Diagnostik der MS wurde durch die Hinzunahme des NFL-Werts genauer. Die Forscher interpretieren ihre Ergebnisse so, dass NFL als Prognosefaktor dienen könnte, der bei Therapieentscheidungen zu Beginn hilft, und gleichzeitig als Biomarker, mit dem man auch das Ansprechen auf die Therapie messen könne. Leider enthält die Veröffentlichung keine Daten zum Behinderungsverlauf der Betroffenen. Dies wäre nämlich der Goldstandard des Nutzens eines Biomarkers für die Verlaufserhebung der Multiplen Sklerose. Hängen hohe NFL-Werte mit einer stärkeren Behinderungsprogression zusammen und kann diese durch die „Therapie nach NFL-Wert“ verbessert werden? So weit ist man noch nicht, auch weil NFL im Blut noch längst nicht von allen Kliniken überhaupt bestimmt werden kann.
Ein wenig eklig mutet der Therapieansatz an, MS-Betroffene mit Würmern zu infizieren, um die Entzündungsaktivität der MS zu vermindern. Zurück geht das auf die Beobachtung, dass bei Betroffenen, die an einer parasitären Erkrankung litten, die Schubrate niedriger war als bei Betroffenen ohne eine solche Erkrankung. Die „Hygiene-Hypothese“ vermutet ja, dass allergische und autoimmune Erkrankungen des Menschen sich deshalb vor allem in Ländern mit höherem Hygienestandard häufen, weil das Immunsystem quasi unterbeschäftigt ist. Es gab schon mehrere Studien mit den Eiern des Schweinepeitschenwurms, die einen Rückgang der Läsionen in der MRT ergaben, die aber keine Kontrollgruppe gehabt hatten. Die Eier des Schweinepeitschenwurms sind nicht in der Lage, den Menschen zu infizieren, aber sie können im Darm eine Immunreaktion auslösen. Nun hat ein britisches Forscherteam ihre Studienergebnisse zu einer tatsächlichen Wurminfektion berichtet, und zwar einer mit N. americanus, dem Hakenwurm, der sich im Körper fortbewegt und sich letztlich im Darm festsaugt.[3] siehe: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113828/Multiple-Sklerose-Hakenwuermer-erzielen-in-randomisierter-Studie-nur-schwache-Wirkung Hier gab es eine Kontrollgruppe. Das primäre Ziel der Arbeit war der Nachweis einer Reduktion von Hirnläsionen in der MRT, das aber verfehlt wurde. Dagegen war die Schubrate in der Gruppe der Studienteilnehmer mit Hakenwurminfektion mit 5 Schüben niedriger als in der Placebokontrollgruppe (11 Schübe). Es handelte sich mit zusammen 35 Patienten nur um eine sehr kleine Studie, die als „negativ“ gilt, weil das primäre Ziel verfehlt wurde. Für Betroffene wäre die Schubratenreduktion allerdings wichtiger als eine Verhinderung von Flecken in der MRT. Die Therapie war gut verträglich. Insgesamt muss man sich fragen, ob man ernsthaft eine Parasiteninfektion als Therapie einsetzen will, bzw. wie lange der Therapieeffekt überhaupt aufrecht zu erhalten ist, denn diese Infektion verursacht irgendwann dann auch eine Anämie über einen chronischen Blutverlust durch die Würmer. Und drittens ist auch das wieder nur ein Ansatz gegen die entzündliche Krankheitsaktivität der MS ohne Nachweis eines Nutzens auf die langfristige Behinderung.
Schon im März gab der Hersteller des Hochdosis-Biotin-Präparats Quizenday bekannt, dass die große Studie, die den Nachweis von Behinderungsverbesserungen durch die Substanz in einer vorangegangenen kleinen Studie[4]siehe: Tourbah A et al., MD1003 (high-dose biotin) for the treatment of progressive multiple sclerosis: A randomised, double-blind, placebo-controlled study. Multiple Sclerosis Journal 2016, Vol. … Weiterlesen hätte bestätigen sollen, nicht erfolgreich war.[5]siehe: https://www.medday-pharma.com/2020/03/10/medday-reports-top-line-data-from-phase-iii-trial-spi2-for-treatment-of-progressive-forms-of-multiple-sclerosis In allen Zielgrößen konnte keine Überlegenheit von Hochdosis-Biotin gegenüber Placebo nachgewiesen werden. Dies ist natürlich eine Enttäuschung, da die vorangegangenen Studien mit keinen Fallzahlen so eindeutig positiv erschienen. Man kann daraus lernen, dass man für alle Studienergebnisse, die zuerst schön aussehen, erst einmal die Bestätigung einholen sollte. Das Studiendesign war ja sehr ambitioniert gewesen. Untersucht wurden Betroffene mit primär oder sekundär progredienter MS (PPMS oder SPMS). Innerhalb einer Behandlungsdauer von 15 Monaten sollten sich in der Biotingruppe Verbesserungen der Gehgeschwindigkeit oder des EDSS im Vergleich zu einer Placebogruppe einstellen. Normalerweise untersucht man MS-Betroffene gar nicht auf Verbesserungen der Behinderung, sondern auf eine Verminderung des Fortschreitens der Behinderung. Unklar bleibt, ob es noch weitere Forschung hierzu geben wird.
Quellen
↑1 | siehe: https://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de/forschung/klinische-studien-register/ms-kohortenstudie |
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↑2 | siehe: https://medizin-aspekte.de/die-prognose-bei-multiple-sklerose-120174/ https://www.thelancet.com/pdfs/journals/ebiom/PIIS2352-3964(20)30182-1.pdf |
↑3 | siehe: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113828/Multiple-Sklerose-Hakenwuermer-erzielen-in-randomisierter-Studie-nur-schwache-Wirkung |
↑4 | siehe: Tourbah A et al., MD1003 (high-dose biotin) for the treatment of progressive multiple sclerosis: A randomised, double-blind, placebo-controlled study. Multiple Sclerosis Journal 2016, Vol. 22(13) 1719– 1731 |
↑5 | siehe: https://www.medday-pharma.com/2020/03/10/medday-reports-top-line-data-from-phase-iii-trial-spi2-for-treatment-of-progressive-forms-of-multiple-sclerosis |