Claudia Hontschick hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Frau C. hat MS“. Um die MS geht es darin allerdings kaum, eher um ein zorniges Leben mit Geld und Behinderung.
Noch ein Buch, in dem jemand die eigene MS-Geschichte erzählt. Aber diesmal ein Hardcover, mit Umschlag, das gut in der Hand liegt. Nicht, wie die sonstigen Bücher, die ohne Lektorat, im Selbstverlag erscheinen. Das Gesicht einer Frau schaut uns vom Cover entgegen. Worum geht es in dem Buch? Frau C., Mutter von zwei Kindern, der Ehemann ein angesehener Arzt, wird mit MS diagnostiziert. Die Beeinträchtigungen sind bald so umfassend, dass sie permanent Hilfe und einen Rollstuhl benötigt. Obwohl ihr die ganze Zeit über ausreichend finanzielle Mittel, eine sehr gute medizinische Versorgung und ein fürsorglicher Partner zur Verfügung stehen, ist sie fassungslos und zornig über ihre Beeinträchtigung und darüber, wie schwer ihr Leben seither ist. Darüber erzählt sie in dem Buch. Bloß, warum?
Nun, sie beschließt eben, ein Buch zu schreiben und kennt scheinbar die richtigen Leute. Nachdem sie einige Interviews mit anderen Betroffenen geführt hatte, erzählte sie ihre Geschichte einer Bekannten, die selbst Autorin ist und erlebte da, „welche Gefühle meine Geschichte auslöste, wenn ich sie am Stück erzählte. Entsetzen, Mitleid, Staunen, Fassungslosigkeit und Mitgefühl wechselten sich bei meinem Gegenüber ständig ab. Abgesehen von dem fulminanten Ausbruch meiner Erkrankung war es immer wieder mein ganz normaler Alltag, der sie am meisten interessierte. Da wusste ich plötzlich, dass genau das im Mittelpunkt meines Buches stehen musste.“ (Seite 30)
Wir wissen nicht, was sie der Bekannten erzählt hat, aber was wir lesen ist vor allem Klagen auf hohem Niveau. Klar ist es schrecklich, dass sie vier OPs wegen vermeintlicher Hirntumore über sich ergehen lassen muss, bevor ihr jemand mitteilt, dass es wohl doch nur eine Multiple Sklerose ist, und das alles nur, weil der Ehemann in der Klinik arbeitet und man ihr die bestmögliche Behandlung zukommen lassen wollte. Aber wenn sie dann von ihrem „normalen Alltag“ berichtet, davon, dass die Cortison-Schubtherapie zuhause von ihrem Mann gemacht wird, weil der ja Arzt ist, oder sie nur seinetwegen mal eben in eine neurologische Klinik aufgenommen wird, „sonst hätte man mich wegen ärztlichem und pflegerischem Engpass nicht von jetzt auf gleich aufnehmen können“ (Seite 51), oder wie sie sich einen Rollstuhl zulegt und zwar „ein rotes, ultra-leichtes Modell aus Titan“ (Seite 40), zum Geburtstag mal eben einen E-Rolli geschenkt bekommt und alle Umbauarbeiten zuhause inklusive Treppenlift einfach beauftragen kann, ist man beim Lesen vor allem verwundert und verärgert über so viel Weltfremdheit und Arroganz.
Das Buch enthält, neben der Geschichte der Frau C., auch insgesamt 5 Kapitel, die mit „Gut zu wissen“ überschrieben sind und dem Buch wohl den Charakter eines Sachbuchs geben sollen. Dort finden sich Informationen zur MS, ohne Quellenangaben und inhaltlich unvollständig und unbrauchbar.
Fast satirisch mutet ein Kapitel in der Mitte des Buches an, in welchem sie die Welt der einfachen MS-Betroffenen in einer Reha-Klinik kennenlernt. Die Leute sind alle so nett und hilfsbereit! Einer nimmt sie mit zu einem medizinischen Fachvortrag zum Thema Basistherapie. Dazu schreibt sie: „Der Oberarzt war sehr bemüht, die teure und doch so dringend benötigte Forschungsarbeit der Pharmaindustrie zu loben. Plötzlich hörte ich mich sagen, es sei früher Aufgabe der Universitäten gewesen, unabhängige Forschung zu betreiben. Die Pharmaindustrie sei aber nicht unabhängig, sie wolle schließlich ihre Produkte verkaufen. Ich fühlte mich jedenfalls nach dem Vortrag so krank wie noch nie“ (Seite 55). Am Ende ihrer Reha hat sie auch viel über Rentenanträge und nicht genehmigte Hilfsmittel gehört und resümiert: „Es war einfach scheußlich, und ich frage mich, warum Leuten, die es ohnehin schon schwer haben, die ihre Gesundheit verloren haben, mit so vielen Restriktionen, so viel Mißtrauen begegnet wird. Eine Schande, und ich war froh, nicht auch noch arm zu sein.“ (Seite 58)
Sie beklagt, dass alles, was sie früher so gern gemacht hat, ob ins Kino, ins Theater oder Essen gehen, nun mit dem Rolli wesentlich umständlicher geworden sei: „Rollstuhlfahren ist auf jeden Fall das Ende der Spontaneität.“ (Seite 39)
Ihrem Ärger über fehlende Barrierefreiheit in ihrer Heimatstadt Frankfurt macht sie nicht nur in diesem Buch Luft. Sie hat, zusammen mit ihrem Mann und mit „freundlicher Unterstützung“ der DMSG und einer Firma, die Bäder barrierefrei umbaut, einen weiteren Band herausgebracht mit dem Titel „Kein Örtchen. Nirgends.“ in dem die vermeintlich barrierefreien Toiletten in den verschiedenen kulturellen und gastronomischen Einrichtungen in und um Frankfurt mit Zeichnungen und großen Fotos beschrieben und kritisiert werden.
Viel zu selten tauchen in dem Buch Sätze auf, mit denen auch andere MS-Betroffenen etwas anfangen können: Dazu gehören die Passagen, in denen Frau C. die Scham beschreibt, wenn man sich eingestehen muss, dass es ohne Rollstuhl nicht mehr geht, die Verzweiflung, mit der man sich auf ein nebenwirkungsreiches MS- Medikament einlässt, und die Hoffnung, das Ruder doch noch herumreißen zu können. Oder die Zweifel, Jahre später, ob man alles richtig gemacht und nichts unversucht gelassen hat. Und auch das sind keine Fragen, die sich Neudiagnostizierte stellen, die vermutlich den größten Bedarf an guten Büchern über die MS haben.
Wie wertvoll solch ein gutes Buch über die MS sein kann, hat Frau C. selbst erfahren. Wie es nach der Diagnose trösten und gute Tipps geben kann und dass man es gern weiterempfehlt. Warum liefert sie selbst dann so etwas ab? Von diesem muss man jedenfalls abraten.
Claudia Hontschik: Frau C. hat MS. Wenn die Nerven blank liegen. Frankfurt am Main: Westend Verlag, 2018 Claudia Hontschik und Bernd Hontschik: Kein Örtchen. Nirgends. Frankfurt am Main: Westend Verlag, 2020
Nathalie Beßler (Text und Foto)