Sterben wollen

Die MS hat Robert Turin übel mitgespielt, so sehr, dass er seinem Leben ein Ende setzen will. Herr Turin ist die Hauptfigur in Daniel Wissers lesenswertem Roman „Königin der Berge“, 2018 erschienen und Gewinner des österreichischen Buchpreises 2018.

„Wenn er seinen Penis betrachtet, wird ihm klar, dass dieser Penis zu nichts mehr gut ist. Er kann noch pissen, aber selbst das Pissen ist kein Pissen mehr, sondern nur noch das elende Tropfen in einen Plastiksack. Nein, nicht mehr in diesem Leben. Und ein anderes Leben gibt es nicht. Dieses Leben. Die erste Hälfte war gar nicht so schlecht.“

In dieser ersten Hälfte seines Lebens war Robert Turin erfolgreich: In der IT-Firma, die er mit aufgebaut hat, verdient er viel und die Frauen wickelt er mit seinem Charme reihenweise um den Finger. Auch, als er schon mit der schönen Irene verheiratet ist, hören die Affären nicht auf. Er reist viel und lebt aus dem Vollen. Als MS bei ihm diagnostiziert wird, braucht er bald einen Rollator und muss die Arbeit aufgeben, dann wird ein Rollstuhl nötig und irgendwann muss er rund um die Uhr gepflegt werden. Durch mehrere Sehnerventzündungen sieht er fast nichts mehr, auch sein Geruchssinn ist weg. Er ist impotent und inkontinent, aufgrund der Fatigue schläft er ständig ein. Trotz regelmäßiger Physiotherapie kann er nicht mehr allein aus dem Rollstuhl aufstehen. Nun ist er, mit Mitte Vierzig, schon eine Weile im Pflegeheim auf einer MS-Station und hat sich hier gut eingerichtet. Er weiß aber, der alte Robert Turin kommt nicht zurück. Deshalb will er sterben.

Daniel Wisser hat in einem Pflegeheim gearbeitet und sehr genau hingeschaut: Er beschreibt, wie man sich als Patient eben so einrichtet im Heim und weiß, dass es von hier aus nirgendwo mehr hingeht. Er beschreibt auch, wie man seine verbliebenen Sinne nutzt, um alles und jeden genau zu beobachten. Herr Turin kennt die Vorgänge auf seiner Station in- und auswendig. Aber fremde Geräusche auf dem Flur, neue Schwestern, deren Namen er nicht auf dem Namenschild lesen kann und die elenden Cremesuppen zum Mittagessen, alles das ist für den Protagonisten eine Provokation. Ohne mehrere Gläser Veltliner und einige Schlucke Whiskey täglich ist das für ihn nicht auszuhalten. Sehr zum Leidwesen des Pflegepersonals.

SCHWESTER MARGIT: Nicht zu viel Wein trinken, Herr Turin. Turin hasst Zurechtweisungen. Den meisten Schwestern hat er das schnell ausgetrieben, doch Schwester Margit hört damit nicht auf. (…) Er ist ein freier Mensch und zahlender Kunde in diesem Heim. Er zahlt so viel, dass Irene sich mit jedem weiteren Tag seines Lebens Sorgen um ihre finanzielle Situation machen muss. Laut ruft Herr Turin dem Zivildiener Marcus durch die Cafeteria zu, dass er ihm ein großes Bier bringen soll. Dann dreht er sich zu Oberschwester Margit.
HERR TURIN: Ich werde heute nicht zu viel Wein trinken, Schwester Margit. Heute werde ich ausnahmsweise mal zu viel Bier trinken.
Schwester Margit geht ohne Gruß davon, und Herr Turin kann sich endlich wieder seiner Zeitung widmen.“

Nicht mit allen geht er so um. Mit den anderen Schwestern gibt er sich viel Mühe, lobt sie, gibt Trinkgeld und macht Komplimente, wann immer er kann. Sie sind es, mit denen man sich gut stellen muss, denn sie leisten die tägliche Arbeit und Routine des Pflegens. Umso besser, wenn sie auch hübsche Brüste haben, die er anfassen darf.

Sein behandelnder Neurologe ist auch keine Hilfe, stuft ihn, trotz der Schübe, als progredient ein, versucht aber dennoch ein neues Medikament bei ihm. Seine größte Sorge: Er möchte kein „menschliches Gemüse“ werden, wie sein Mitpatient Herr Kelemen, der nun bettlägerig ist und nur noch „ja ja ja“ sagen kann. Herr Turin will sterben und zwar bald. Aber er kann seinen Plan der Freitodbegleitung in der Schweiz nicht alleine umsetzen und Hilfe ist nicht in Aussicht. „Wenn Herr Turin jemandem erklären will, dass er eine Person braucht, die ihn in die Schweiz fährt, damit er sein Leben beenden kann, dann werden alle stumm. Die Schwestern sind plötzlich mit anderen Tätigkeiten beschäftigt, Irene wischt auf ihrem Mobiltelefon.“ Die schöne Irene, die ihn unbeirrt jedes Wochenende besucht, aber über seinen Wunsch zu sterben nicht sprechen will. Überhaupt ist die Kommunikation der beiden schwierig, auch weil Herr Turin Geheimnisse vor ihr hat und gleichzeitig unbedingt seinen Willen durchsetzen will.

Herr Turin bringt im Verlauf der Geschichte eine Menge Energie auf, seinem Leben ein Ende zu setzen und dafür jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Diese Situationen, tragisch und ausweglos, sind mit einer ordentlichen Portion Ironie beschrieben, so dass man sich oft ein Schmunzeln nicht verkneifen kann. Gut gelungen ist auch die visuelle Darstellung der Sprachlosigkeit, als Herr Turin durch einen Schub kurzfristig gar nicht mehr gut zu verstehen ist.

Das große Thema des Buches ist aber die Einsamkeit. Herr Turin wird im Heim versorgt und gepflegt, aber nicht ernst genommen. Er sucht händeringend nach Gesprächspartnern, die es mit ihm aufnehmen können. Insbesondere wenn er betrunken ist, kommentiert Herr Turins toter Kater Dukakis bissig seine Gedanken und gibt so Feedback. Auch das Pflegepersonal hört er dann sprechen, obwohl sie gar nicht da sind. Wie ein Brecht’scher Chor kommentieren sie die Situation. Was sie wirklich gesagt haben, wird allerdings nicht klar. Am Ende ist es, unverhofft, die Liebe einer Frau, nicht seiner, die ihm die Erlösung bringen wird.

Die MS, das ist die Botschaft von „Königin der Berge“, lässt sich nicht bezwingen. Robert Turin will mit diesen vielen Einschränkungen nicht leben und muss es auch nicht. Auf Psychotherapie lässt er sich nicht ein. Er ist stur. Sein privates Umfeld enttäuscht ihn und die Behandler können ihm, außer Floskeln, auch nichts anbieten. Nichts und niemand genügt, tröstet oder hilft ihm. So beschrieben, scheint auch dem Leser der Tod die einzig vernünftige Lösung. Allerdings ist Robert Turin ein unzuverlässiger Erzähler, wir wissen nicht, was die anderen denken und fühlen. Als einmal eine der Schwestern, die er am liebsten mag, in Tränen ausbricht, weil sie Sorge hat, ihn zu verlieren, wird seine ganze Hilflosigkeit deutlich, bewirkt aber kein Umdenken. Was sein Selbstmord, begründet oder nicht, in seinem direkten Umfeld anrichten wird, ist ihm egal. Das ist eindeutig eine Charakterschwäche und kein Symptom der MS.

Nathalie Beßler

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