Silent Progression

Auch wenn eine Immuntherapie Schübe aufhält, bringt das nicht unbedingt Behinderungsstillstand, so die Ergebnisse der EPIC-Studie.

Im vergangenen Jahr erschienen die Ergebnisse einer Langzeit-Beobachtungsstudie von MS-Erkrankten des Sandler Neurosciences Center am Universitätsklinikum von San Francisco.[1]B.A.C. Cree et al.: „Silent progression in disease activity-free relapsing multiple sclerosis“, in: Annals of Neurology, 2019; 85, S. 653–666. Die EPIC-Studie[2]Sandler Neurosciences Center, San Francisco: About the EPIC Study, URL: https://epicstudy.ucsf.edu/about (12.12.2020). läuft seit dem Jahr 2004 und umfasst knapp 500 Patient*innen. In 2016 gab es schon einmal Ergebnisse aus dieser Kohorte. Damals ging es um die Fragestellung, ob Kurzzeitparameter wie „No evidence of disease acitivity (NEDA)“[3]Freiheit von Krankheitsaktivität: Keine Schübe, keine Behinderungsprogression, keine MRT-Aktivität. über zwei Jahre auf einen langfristig günstigen Verlauf in Bezug auf die Behinderungsprogression schließen lassen, und das war nicht der Fall.[4]MS-Stiftung Trier: Warnung! Äpfel-mit-Birnen-Vergleich verdreht Studienaussage, URL: https://ms-stiftung-trier.de//warnung-aepfel-mit-birnen-vergleich-verdreht-studienaussage/#more-309, 07.11.2016 … Weiterlesen Die aktuelle Fragestellung knüpfte daran an und untersuchte, inwieweit Behinderungsprogression unabhängig von Schüben auftrat. 

Es halten sich immer noch hartnäckig manche Vorstellungen über die MS mit schubförmigem Verlauf, zum Beispiel, dass eine Zunahme der Behinderung allein Folge der durchgemachten Schübe sei; oder dass die in der MRT nachweisbaren Herde zusätzlich im Hintergrund die Reserven der Hirnfunktion aufbrauchen, so dass es deswegen später zum Übergang in die sekundär progrediente MS (SPMS) kommt – und das, obwohl es eben nicht gelungen ist, die Schubanzahl oder die Ausdehnung der MS-Herde im Gehirn mit der Schwere der Behinderungen zu korrelieren. Und es gelang leider auch nicht, durch Verhinderung der Schübe zuverlässig immer auch das Fortschreiten der Behinderung zu verhindern. Die Forscher von San Francisco haben jetzt die Zusammenhänge zwischen Schüben, Behinderungsprogression und Hirnvolumenverlust über 10 Jahre hinweg analysiert, und herausgearbeitet, dass eine gewisse schleichende Behinderungsprogression oder ein Hirnvolumenverlust bei MS-Erkrankten schon in der schubförmigen Phase auftreten konnte, auch wenn keine Schübe oder MRT-Aktivität vorhanden waren.

Es handelte sich um insgesamt 480 Studienpatient*innen, 88 mit klinisch isoliertem Syndrom (KIS) und 392 mit schubförmig-remittierender MS (RRMS). Zu Beginn der Studie waren 14,2% noch nie mit einer Immuntherapie behandelt worden, 24,6% wurden zu diesem Zeitpunkt gerade nicht immuntherapeutisch behandelt, 60% hatten eine Basistherapie und 1,2% eine Eskalationstherapie. Von den ursprünglich 480 Studienteilnehmer*innn gingen 372 in die Analyse nach 10 Jahren ein, die an allen Verlaufsuntersuchungen in jährlichen Abständen teilgenommen hatten. Von diesen hatten 13 immer noch ein KIS, 285 eine RRMS, und 74 hatten entweder eine SPMS (60) oder befanden sich in der Übergangsphase dahin (14). In jeder dieser drei Gruppen war der EDSS-Wert[5]Wikipedia: Expanded Disability Status Scale, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Expanded_Disability_Status_Scale (12.12.2020). über 10 Jahre im Mittel angestiegen (KIS um 0.6, RRMS um 1.0, SPMS um 2.5). Bei insgesamt 138 der 392 Studienteilnehmer*innen hatte sich die Behinderung verschlechtert, darunter 46 SPMS-Betroffene, aber es gab auch 92, deren Verläufe von ihren Ärzt*innen immer noch als RRMS eingestuft wurden. Bei 34 dieser Betroffenen mit Behinderungsprogression waren keinerlei Schübe aufgetreten. 

Zunächst wurde ausgewertet, welchen Einfluss durchgemachte Schübe auf bestimmte Behinderungsendpunkte gehabt hatten. Es ergab sich, dass Schübe zwar zu einer vorübergehenden Erhöhung des Wertes auf der EDSS-Skala geführt hatten, allerdings konnte man dies dann nicht in der darauffolgenden Untersuchung bestätigen, und auch bei der Abschlussuntersuchung nach 10 Jahren nicht. Auch andere Parameter wie die Gehgeschwindigkeit, die Handfunktion und die kognitive Funktion wurden untersucht. Hier war wiederum nur die Gehgeschwindigkeit in der auf einen Schub folgenden Untersuchung vermindert, aber nicht im langfristigen Verlauf, und auf die Handfunktion und die kognitive Funktion hatten die Schübe keinen Einfluss gehabt. Das Auftreten neuer MRT-Herde hatte die Wahrscheinlichkeit für einen Schub erhöht, was ein bekanntes Phänomen ist, und die Eskalationstherapie hatte im Vergleich zur Basistherapie zu weniger Schüben geführt, was der bekannten Wirksamkeit der Substanzen entspricht.

Dann widmeten sich die Autor*innen der Entwicklung des Hirnvolumenverlusts in diesen zehn Jahren. Man muss wissen, dass alle Menschen im Laufe des Lebens einen Hirnvolumenverlust entwickeln, der bei MS-Betroffenen im Mittel stärker ist als bei Nicht-Betroffenen, aber, wie alles bei der MS, individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. In der Studie wurden vier Patient*innengruppen in Abhängigkeit vom klinischen Verlauf unterschieden (1: keine Schübe, keine Behinderungsprogression; 2: mit Schüben, keine Behinderungsprogression; 3: keine Schübe, mit Behinderungsprogression; 4: mit Schüben, mit Behinderungsprogression). Während der Abbau des Hirnvolumens in Gruppe 1 langsamer ging als im Schnitt der MS-Betroffenen, verlief er in Gruppe 3 schneller, in den beiden anderen Gruppen mit dem Durchschnitt, so dass man daraus schließen konnte, dass die schub-unabhängige Behinderungsprogression auch mit einem zusätzlichen Hirnvolumenverlust einherging, Schubereignisse aber nicht. 

Wie kann man diese Daten interpretieren?

In der Behandlung der Patient*innen, die an dieser Langzeitbeobachtung teilgenommen haben, wurde das Therapieziel NEDA verfolgt, also die möglichst vollständige Freiheit von Krankheitsaktivität, was praktisch bedeutet, dass sowohl MRT-Aktivität als auch Schübe immuntherapeutisch soweit wie möglich reduziert wurden, in der Annahme, dass dadurch auch die Behinderungsprogression unterdrückt werden würde. Anstatt das, wie hierzulande üblich, aber einfach vorauszusetzten, hat man es wissenschaftlich überprüft. In dieser Studienkohorte war die Schub- und MRT-Aktivität zwar tatsächlich wesentlich unterdrückt worden, aber es kam dennoch zu einer Behinderungsprogression in allen Untergruppen, zu der nicht etwa Schübe beigetragen hatten. Da die Behinderungsprogression aber grundsätzlich in der schubförmigen Krankheitsphase noch wenig ausgeprägt ist, wurde sie in der Wahrnehmung der Fachwelt bisher nicht wirklich beachtet. Erst durch die Intensivierung der Immuntherapien mit dadurch niedrigeren Schubrate ist jetzt aufgefallen, dass neurodegenerative Vorgänge offenbar über die gesamte Erkrankungszeit, und auch schon sehr früh, zu nachweisbaren Symptomen führen. Die Autor*innen bezeichneten das Phänomen als „silent progression“ (Stille Progression oder Schubunabhängige Progression bzw. englisch: progression independent of relapse activity (PIRA).

Welchen Stellenwert hat die Unterdrückung der entzündlichen Aktivität durch Immuntherapie für die Entwicklung der Behinderung?

Nach Zulassung der Beta-Interferone für die MS in den 1990er Jahren kam es zu einer Reihe von Entwicklungen, die bis heute zur Zulassung von sehr vielen anderen Immuntherapeutika führten, die alle auf die Entzündungshemmung im zentralen Nervensystem abzielten. Die Euphorie der Fachwelt, endlich mal überhaupt Therapien gegen MS einsetzen zu können, gepaart mit den ausufernden Beeinflussungen der Neurolog*innen durch die pharmazeutischen Hersteller dieser Medikamente, führte dazu, Unstimmigkeiten und Defizite wie die Erforschung der progredienten MS zu vernachlässigen. Es hätte schneller dazu kommen müssen, sich der degenerativen Komponente der MS-Erkrankung zu widmen, statt vorauszusetzen, dass schon alles gut wird, wenn man keine Schübe mehr hat und auch in der MRT nichts mehr zu sehen ist. Aus der Grundlagenforschung weiß man, dass Entzündungen im Gehirn und Rückenmark in allen MS-Phasen vorhanden sein können, die sich jeweils unterschiedlich darstellen, je nachdem, ob sie mit degenerativen Vorgängen einhergehen oder ob Schubaktivität im Vordergrund steht. Immer aber sind im gesamten MS-Verlauf beide Krankheitsphänomene vertreten, Entzündung und Degeneration. Nichtsdestotrotz postulieren Meinungsführer der MS-Szene unverdrossen, dass die schub-unabhängige Behinderungsprogression die Folge eines initialen Entzündungsgeschehens ganz am Anfang der MS-Erkrankung sein müsse[6]Mäurer M, MS-Docblog: Neues vom ECTRIMS – Krankheitsprogression – PIRA (progression independent of relapse activity), URL: … Weiterlesen, was als Argument für eine möglichst frühzeitige Immuntherapie herangezogen wird, obowhl das nicht belegt ist. Niemand hat schlüssig nachweisen können, was zuerst da war, die Entzündung oder der Schaden an den Nervenzellen und dem Myelin. Es mehren sich aber die Hinweise, dass Entzündungsbekämpfung bei der MS nicht alles ist, weshalb man sie nicht um jeden Preis betreiben sollte. Die Verordnung und Einnahme von Immuntherapeutika sollten immer unter einem Nutzen-Risiko-Vorbehalt stehen. Sie können im Falle eines sehr aktiven Krankheitsverlaufs mit schlechter Schubrückbildungstendenz hilfreich sein, aber sind kein Muss bei leichteren Verläufen.

Jutta Scheiderbauer

Foto: Nathalie Beßler

Quellen

Quellen
1 B.A.C. Cree et al.: „Silent progression in disease activity-free relapsing multiple sclerosis“, in: Annals of Neurology, 2019; 85, S. 653–666.
2 Sandler Neurosciences Center, San Francisco: About the EPIC Study, URL: https://epicstudy.ucsf.edu/about (12.12.2020).
3 Freiheit von Krankheitsaktivität: Keine Schübe, keine Behinderungsprogression, keine MRT-Aktivität.
4 MS-Stiftung Trier: Warnung! Äpfel-mit-Birnen-Vergleich verdreht Studienaussage, URL: https://ms-stiftung-trier.de//warnung-aepfel-mit-birnen-vergleich-verdreht-studienaussage/#more-309, 07.11.2016 (12.12.2020).
5 Wikipedia: Expanded Disability Status Scale, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Expanded_Disability_Status_Scale (12.12.2020).
6 Mäurer M, MS-Docblog: Neues vom ECTRIMS – Krankheitsprogression – PIRA (progression independent of relapse activity), URL: https://www.ms-docblog.de/multiple-sklerose/neues-vom-ectrims-krankheitsprogression-pira-progression-independent-of-relapse-activity/, 13.11.2020 (13.12.2020).