Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen

Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen

Es war einmal eine Ärztin, die dachte, eine Patientenorganisation würde immer von Patienten oder ihren Angehörigen geleitet, die die eigenen Interessen im Gesundheitssystem vertreten. Es begab sich aber, dass sie selbst an Multiple Sklerose erkrankte, und eines Besseren belehrt wurde.

Selbsthilfe, Patientenorganisation und Patientenvertretung sind Bezeichnungen, die praktisch synonym verwendet werden, es aber nicht sind. Unter „Selbsthilfe“ wird traditionell eine selbstorganisierte Form der gegenseitigen Unterstützung von Betroffenen für Betroffene verstanden; die „Selbsthilfegruppen“ sind den meisten Menschen hierzulande ein Begriff. Selbsthilfeorganisationen ziehen im Bedarfsfall externe Experten hinzu, wenn es um medizinische Fragestellungen geht, damit Betroffene relevante Gesundheitsinformationen erhalten. „Patientenvertretung“ dagegen meint das Gegenteil, die Vermittlung von Patientenerfahrungen an Fachleute im Gesundheitswesen mit dem Ziel, Verbesserungen der medizinischen Versorgung von Betroffenen zu erreichen. Im Idealfall sind beide Funktionen in einer Organisation vereint, die selbstverständlich von Betroffenen oder ihren Angehörigen geleitet wird, dann ist es eine echte Patientenorganisation.

Selbsthilfegruppen existieren erst seit den 1970ern, als es sich gesellschaftlich mehr und mehr durchsetzte, sich zu Krankheiten und Behinderungen offen zu bekennen. In einer Zeit ohne digitale Kommunikation stellten diese Gruppen die einzige Möglichkeit dar, sich unabhängig vom behandelnden Arzt über medizinische Belange zu informieren. Aus den Gruppen bildeten sich größere Patientenorganisationen, die im medizinischen Establishment nach und nach ein Umdenken weg von der paternalistischen Medizin hin zur Wertschätzung der Patientenautonomie bewirkten.

Das war übrigens nicht immer angenehm für uns Ärzte. Man musste sich schon mal sagen lassen, was man in seinem Berufsleben alles falsch gemacht hat. So habe ich es öfters erlebt, dass eine aktive Patientenvertreterin (natürlich selbst betroffen) andere Patienten in die Sprechstunde begleitete, um aufzupassen, dass sie gut behandelt wurden. Gesundheits- und wissenschaftspolitisch ist es solchen echten Patientenorganisationen beispielsweise zu verdanken, dass Nebenwirkungen der eingreifenden Krebstherapien endlich Beachtung fanden. Die Onkologie musste lernen, auf ihre Patienten zu hören.

Es existierten aber auch schon vor der Selbsthilfeära gemeinnützige Organisationen, die sich den Interessen von kranken oder behinderten Menschen verschrieben hatten. Auch der Bundesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft wurde bereits in den 1950ern gegründet, nicht von Betroffenen, sondern von Ärzten und Sozialarbeitern. Versetzt man sich 60 Jahre zurück, wird das verständlich. Multiple Sklerose ist nicht leicht zu diagnostizieren, wenn keine Kernspintomographie zur Verfügung steht. Leichter Betroffene erhielten damals oft gar keine Diagnose, und wenn, verschwiegen sie sie, so es irgend ging. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung standen die Schwerstbetroffenen und ihre Familien. Deren Leid zu lindern, waren engagierte Fachleute angetreten; die Erkrankten oder ihre belasteten Angehörigen hätten niemals die Kraft für eine selbstständige Vertretung der eigenen Interessen gehabt. Die Unterstützung der aufkommenden Selbsthilfegruppen wurde später in die Satzungen der DMSG auf Bundes- und Länderebene mit aufgenommen – und mittlerweile bekennen sich auch sehr viele leicht Betroffene zu ihrer MS – aber grundsätzlich blieb in den meisten Landesverbänden und dem Bundesverband bis heute das Prinzip erhalten, dass Leitungsfunktionen und die Beratungsarbeit überwiegend von Nichtbetroffenen ausgeübt werden.

Die Bedeutung offiziell benannter Patientenvertreter wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2004 enorm erhöht, denn mit diesem Gesetz wurde der sogenannte „Gemeinsame Bundesausschuss“ (GBA) ins Leben gerufen, um medizinische Maßnahmen auf ihren Nutzen hin zu überprüfen. Ziel des Gesetzes war die Kostensenkung; unnötige Leistungen sollten nicht mehr von den Krankenkassen erstattet werden müssen. Im GBA sitzen neben Vertretern der Ärzteschaft und der Krankenkassen auch Patientenvertreter, die von einer der vier dafür anerkannten maßgeblichen Patientenorganisationen (Bundesarbeitsgemeinschaft PatientInnenstellen, Deutscher Behindertenrat, Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen und Verbraucherzentrale Bundesverband) entsendet worden sein müssen. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft ist Mitglied der BAG Selbsthilfe und die wiederum ist Mitglied des Deutschen Behindertenrates. Insgesamt sind durch diese Auswahl nicht nur echte Patienten als Patientenvertreter zugelassen, sondern auch Patientenberater, die nicht selbst von einer Erkrankung betroffen sind, z.B. die Mitarbeiter der Verbraucherzentralen.

Im GBA gibt es „ständige Patientenvertreter“ und „themenspezifische Patientenvertreter“. Letztere werden nur für eine bestimmte Erkrankung benannt, an der sie meist auch selbst erkrankt sind, oder auch ein naher Angehöriger, jedenfalls kennen sie die Erkrankung gewöhnlich aus persönlicher Erfahrung und der Selbsthilfearbeit. Anders kann es bei der Besetzung der ständigen Patientenvertreter sein, deren Aufgabe Anwesenheit bei sämtlichen Themen verlangt, die im GBA behandelten werden. Diese Aufgabe ist wesentlich zeitaufwändiger und körperlich belastend, demzufolge wird diese Funktion öfter von gesunden Patientenvertretern ausgeübt, die Mitarbeiter der Patientenberatungsorganisationen sind und keine oder kaum persönliche Berührungspunkte mit der jeweiligen Erkrankung haben. Aber auch wenn es sich um persönlich erkrankte Patientenvertreter handelt, so sind sie ja nur von einer Erkrankung betroffen, nicht von allen, die im GBA thematisiert werden.

Man muss sich unbedingt klarmachen, dass die aktuelle gesetzliche Regelung der Patientenbeteiligung nicht das hält, was die Bezeichnung verspricht. Nicht nur, dass nicht gewährleistet ist, dass im GBA bei jedem Thema wenigstens ein tatsächlich Betroffener anwesend ist, es ist auch seit Einführung des Status als „maßgebliche Patientenorganisation“ deutlich erschwert, als Patient ohne Zugehörigkeit zu einer dieser vier Organisationen im Gesundheitswesen politisches Gehör zu finden. Sollten Sie also mit der Versorgung ihres Krankheitsbildes unzufrieden sein, müssen Sie sich erst intern „hochdienen“ und dürfen besser keine kritischen Stellungnahmen zu herrschenden Strukturen abgeben, denn sonst haben Sie keine Chance. Und dieses intransparente Verfahren müssen Sie als Patient auch erst mal verstanden haben. Von wegen Barrierefreiheit, hier wurden die Hürden für Patientenbeteiligung so hoch gesetzt, dass so gut wie kein Kranker oder Behinderter sie überwinden kann.

Wenn Sie es aber wider Erwarten doch geschafft haben, stellen Sie im GBA schnell fest, dass Ihr Einfluss durch gesetzliche Vorgaben gravierend beschnitten ist. Sie haben zwar Rederecht und auch Antragsrecht – letzteres nicht als einzelner Patientenvertreter, sondern als Gruppe – aber Sie haben kein Stimmrecht. Eine starre Verfahrensordnung verhindert ferner, dass die eigentlichen Anliegen ihrer Mitbetroffenen auf die Tagesordnung kommen. Das ganze System ist streng auf den wirtschaftlichen Aspekt ausgerichtet, und das war’s.

Aber was könnte man als MS-Betroffener denn tun, um im Gesundheitssystem Gehör zu finden, vor allem bei Ärzten und Wissenschaftlern? Geeignete Adressaten der Kritik zahlreicher Betroffener wären genau jene etablierten MS-Experten, die entweder im Ärztlichen Beirat oder in den Vorständen mancher Landesverbände bzw. des Bundesverbandes der DMSG das Sagen haben. Bislang sehen die Fachleute innerhalb der DMSG ihre Aufgabe darin, den Informationsfluss in nur eine Richtung laufen zu lassen, vom Experten zu den Betroffenen. Stattdessen sollte es in gleichem Ausmaß auch umgekehrt möglich sein: Die MS-Patientenvertretung müsste hochrangige MS-Experten mit der Kritik der Betroffenen an der medizinischen Versorgung konfrontieren, damit sie sie zuerst kennen- und dann akzeptieren lernen, sich selbst verändern und ihre Therapiekonzepte und wissenschaftlichen Aktivitäten an den Patientenbedürfnissen ausrichten. Es liegt auf der Hand, dass diese das nicht freiwillig machen werden, denn der Status quo ist sehr viel bequemer. Dementsprechend müssen wir Betroffene penetrant und impertinent unsere Sicht selbst einbringen, sei es innerhalb, sei es außerhalb bestehender Strukturen. Ein Happy End ist noch lange nicht in Sicht.

Jutta Scheiderbauer

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